In Melbourne hat gestern das Berufungsverfahren im Fall des australischen Kardinals George Pell begonnen. Der 77-Jährige soll in seiner Zeit als Erzbischof von Melbourne zwei minderjährige Chorknaben sexuell missbraucht haben. Er war deshalb im März zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Zum Auftakt des Berufungsverfahrens bezeichnete der Kardinal die Vorwürfe als „bizarr“ und „unmöglich“.
Von Anfang an Zweifel an Pells Schuld
Der Urteilsspruch gegen den ehemaligen vatikanischen „Finanzdirektor“ war von Beobachtern in australischen Medien aber auch im Ausland oft kritisch kommentiert worden. Der Tathergang sei widersprüchlich und Pell aufgrund nicht belegter Aussagen eines Zeugen schuldig gesprochen worden, lauteten die Vorwürfe. Kardinal Pell ist der höchstrangige Geistliche, der wegen sexuellen Missbrauchs zu einer Haftstrafe verurteilt wurde.
Pells Anwalt Bret Walker nannte nun vor Gericht einen langen „Katalog“ von Elementen, die gegen eine Verurteilung seines Mandanten sprächen. Das Urteil sei anfechtbar, so Walker, da es lediglich auf der Aussage eines einzelnen Opfers basiere, das noch am Leben sei. Das mutmaßliche zweite Opfer Pells starb im Jahr 2014 an einer Überdosis Drogen. Zudem habe der Richter im Verfahren zuvor Beweise der Verteidigung nicht zugelassen.
Es könnten mehrere Wochen vergehen, ehe ein Urteil gesprochen wird
Die Berufungsanhörung soll heute zu Ende gehen. Dann werden sich die Richter zur Urteilsfindung zurückziehen – ein Prozess, der mehrere Wochen dauern könnte.
Indes waren immer wieder Stimmen zu hören, die die Wahrscheinlichkeit, dass Pell freigesprochen werde, als nicht gering einstuften. So äußerte sich Jeremy Gans, ein Rechtsexperte von der Universität Melbourne vor Beginn der Berufungsanhörung und sprach von „guten Erfolgsaussichten“ für den Kardinal. „Es ist ungewöhnlich, dass eine solche Verurteilung nur auf der Aussage eines Opfers basiert, ohne dass irgendwelche weiteren Beweise für die Schuld des Angeklagten vorgelegt werden“, so Gans laut dem britischen „Telegraph“.
"Es ist ungewöhnlich, dass eine solche
Verurteilung nur auf der Aussage eines Opfers
basiert, ohne dass irgendwelche weiteren
Beweise für die Schuld des Angeklagten vorgelegt werden“
Jeremy Gans, australischer Rechtsexperte
Dies bedeute zwar nicht zwangsläufig, dass Pell unschuldig sei oder die Jury einen Fehler gemacht habe, so Gans weiter. Es sei jedoch wahrscheinlich, dass das Berufungsgericht zu dem Schluss kommt, dass das Urteil der Jury gegen Pell nicht haltbar sei.
DT/mlu
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