Tübinger Theologie enthielt wohl auch früher schon Sprengstoff: Mitte der 1950er Jahre legte der Tübinger Dogmatiker Josef Rupert Geiselmann (1890–1970) seine These von der „materiellen Schriftsuffizienz“ vor, behauptete also, dass die Heilige Schrift in Fragen der Glaubens- und Sittenlehre keiner inhaltlichen Ergänzung durch die Tradition der Kirche bedürfe. Das war eine Kampfansage an die herrschende „Zwei-Quellen-Theorie“, der zufolge Bibel und Tradition die zwei Materialquellen der göttlichen Offenbarung seien. Die evangelische Seite hatte den Geiselmannschen Ansatz freilich schon immer vertreten und unter den Obertitel „sola scriptura“ gestellt.
Der Streitfall um Schrift und Tradition
Mit seiner These der „materiellen Schriftsuffizienz“ versuchte Josef Geiselmann, auf katholische Art evangelisch zu denken. Von Urs Buhlmann