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WSW-Gutachten: Im Duktus einer Anklageschrift

Nach Sichtung des Münchener Gutachtens zum Umgang mit Missbrauchsfällen im Erzbistum Köln wird klar: Die Diskussion um das Papier war viel Lärm um nichts. Dennoch hinterlässt die Einsichtnahme einen speziellen Eindruck. Worin die Unterschiede zwischen den beiden Gutachten liegen.
Erzbistum Köln - Pressekonferenz
Foto: Oliver Berg (dpa-Pool) | Der Blick der Kölner Gutachter geht im Hinblick auf Verantwortlichkeiten noch weiter. Im Bild: Kardinal Rainer Maria Woelki.

Über viele Monate ist der vermeintliche Inhalt des Gutachtens der Münchener Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) Gegenstand unseliger Spekulationen gewesen. In dieser Woche hebt sich der Nebel. Auch die Münchener Juristen erheben keine Vorwürfe gegen den jetzigen Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki. Damit fallen alle Spekulationen, er habe das Gutachten nicht veröffentlicht, um von seinem eigenen Verschulden abzulenken, wie ein Kartenhaus zusammen.

Auf jeder Seite ein Wasserzeichen

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Insoweit trägt es zur Klarheit bei, dass Journalisten und Betroffene jetzt die Möglichkeit erhalten, das umstrittene Gutachten einzusehen. Der Kölner Erzbischof hatte sich seinerzeit geweigert, es öffentlich zu machen. Er berief sich dabei auf eine Einschätzung von Rechtsprofessoren, die dem Papier äußerungsrechtliche und methodische Schwächen attestierten. Nach Sichtung des Münchener Gutachtens wird klar: Die Diskussion um das Papier war letztlich viel Lärm um nichts. Es gibt faktisch keinen über die umfangreichen und ausführlichen Feststellungen des Gercke-Gutachtens hinausgehenden Erkenntnisgewinn in Bezug auf Fakten.

Dennoch hinterlässt die Einsichtnahme in das Gutachten unter den besonderen Umständen, die nicht nur durch die Corona–Pandemie bedingt sind, einen speziellen Eindruck beim Betrachter. Gerade einmal 90 Minuten stehen den zehn jeweils berechtigten Lesern im Kölner Maternushaus zur Verfügung, um sich in die 504 Seiten dicke Akte einzugraben. Selbst für jemanden, der es gewohnt ist, juristische Akteninhalte schnell und effizient zu durchstöbern, eine Herausforderung, die nicht wirklich leistbar ist. Darüber hinaus wird das Lesen der Seiten noch dadurch erschwert, dass jeweils in der Mitte ein starkes Wasserzeichen mit der Aufschrift „Erzbistum Köln – vertraulich“ prangt. Als sei man darauf nicht bereits mehrfach hingewiesen worden. Wenn es dann irgendwann heißt “noch zehn Minuten“ fühlt man sich an die Zeiten der Abiturklausuren erinnert, nur dass man diesmal nichts abgeben muss, sondern alle Unterlagen, die man erhalten hat vor Ort bleiben.

Den Gutachterstil verlassen

Wo liegen nun die großen Unterschiede in den beiden Gutachten der Anwaltskanzleien? Es trifft in jedem Fall zu, dass das Gutachten aus der bayerischen Landeshauptstadt aus dem Blickwinkel eines Juristen unter dem methodischen Mangel leidet, dass es an vielen Stellen den Gutachterstil verlässt und statt der üblichen Subsumption von Handlungen unter Tatbestände Formulierungen wählt, die vom Duktus her eher in eine Anklageschrift oder ein Urteil passen würden. Das liegt sicherlich daran, dass die Münchener ihren Auftrag anders interpretiert haben, als die Kölner Strafverteidiger. In einer jüngst veröffentlichen Pressemitteilung macht die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl das noch einmal deutlich. Sie beschreiben ihren Auftrag dahingehend, dass im Hinblick auf die Verantwortlichkeiten nicht nur eine bloße Rechtmäßigkeitskontrolle, sondern insbesondere auch eine Angemessenheitsprüfung unter moralischen Gesichtspunkten“ hätte erfolgen sollen. Den Kölner Gutachtern werfen sie vor, „die Einlassungen der noch lebenden Verantwortungsträger unter Zugrundelegung des Gutachtensauftrags nicht mit der gebotenen gutachterlichen Kritikbereitschaft“ bewertet zu haben. 

Doch diese gutachterliche Kritikbereitschaft könnte man an mancher Stelle im Münchener Gutachten eben auch als unangemessen und wertend interpretieren. Wenn dort Formulierungen wie „nicht ansatzweise genügt“ oder „lässt sich nicht ernsthaft bestreiten“ benutzt werden und oftmals der Bezug der moralischen Bewertung zu den feststellbaren Fakten nicht offensichtlich wird. Auch Formulierungen wie „hätte wissen müssen“ sind nicht geeignet, einen Beweiswert zu manifestieren. 

WSW kann offenbar mehr als Jura

Der Blick der Kölner Gutachter geht auch im Hinblick auf Verantwortlichkeiten noch weiter. Während die Münchener Anwälte sich auf die jeweils handelnden Erzbischöfe, Generalvikare und Kirchengerichtsleiter fokussierten, bezog das Expertenteam von Björn Gercke auch auf die Personalchefs und Justiziare in die Untersuchungen ein. 

Die Münchener Kanzlei nimmt für sich in Anspruch, moralische Einschätzungen und Bewertungen vornehmen zu können. Demgegenüber hat Björn Gercke bereits vor der Veröffentlichung seines Gutachtens klargemacht: „Wir können nur Jura". Deshalb verzichte man auf starke Worte und spare sich nach Möglichkeit das Pathos. Die moralische Bewertung überlasse man anderen. 

Der Nebel der Spekulationen über den Inhalt des Münchener Gutachtens hat sich gehoben. Es bleibt der Streit darüber, ob die Nichtveröffentlichung ihren deutlichen Hinweisen zu Mängeln im System Kirche geschuldet war, die man nicht habe lesen wollen, oder eben doch in methodischen und äußerungsrechtlichen Mängeln seine Ursache hatte. Ein solcher Streit ist aber letztlich akademisch. Klar ist nur, dass das Thema Missbrauch die Kirche noch lange belasten wird. 

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Heinrich Wullhorst Erzbischöfe Generalvikar Missbrauchsaffären Rainer Maria Woelki

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