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Von der Kölner Benchmark und der unheiligen Inquisition

Kardinal Woelki war der ideale Sündenbock, den man durch das mediale Dorf treiben konnte. Dabei hat kein einziges Bistum bislang eine vergleichbar lückenlose Aufklärung geleistet. Nun gehen viele in Deckung um sich nicht an den Kölner Standards messen lassen zu müssen.
Erzbistum Köln - Pressekonferenz
Foto: Oliver Berg (dpa-Pool) | Ihm gehe es um einen grundlegenden Perspektivwechsel, so Woelki am Dienstag in seiner Pressekonferenz: Die Betroffenen gehörten in den Mittelpunkt.

Seit Monaten steht Rainer Maria Kardinal Woelki im Feuer. Der 64-jährige Erzbischof wirkt gefasst und unaufgeregt. Seine asketische Gestalt steht in Gegensatz zum Auftreten von eher barock anmutenden Kirchenfürsten, die auch Lust am Genuss und machtbewusster Inszenierung zur Schau stellen. Die Medien zeigen Bilder von Woelki, die ihn mit ernstem Blick und heruntergezogenen Mundwinkeln angeschlagen porträtieren.

Alles nur Teil einer Vertuschungsstrategie?

Seit Woelki sich auf Anraten renommierter Juristen entschied, ein erstes Gutachten zum Umgang kirchlicher Verantwortungsträger mit den Tätern sexualisierter Gewalt wegen gravierender methodischer und äußerungsrechtlicher Mängel nicht zu veröffentlichen, ist der Teufel los. Egal, ob in diesem ersten Gutachten – wie es eine Reihe juristischer Fachleute attestierte – Tatsachenbehauptungen mit subjektiven Wertungen vermischt, Protokolle über Gespräche mit Verantwortungsträgern eher summarisch, denn wortgetreu verfasst, Angeschuldigten keine hinreichende Fristen für Stellungnahmen eingeräumt und diesen keine fachkundige Beratung nahegelegt sowie nur 15 von 236 Fälle exemplarisch, aber ohne Angabe von Kriterien für die Auswahl aufgeführt wurden – vieles, was dem Schutz der Persönlichkeitsrechte von namentlich Angeschuldigten zur zwingenden Voraussetzung für eine sogenannte Verdachtsberichterstattung dient, spielt keine Rolle.

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Woelki war der ideale Sündenbock, den man durch das mediale Dorf treiben konnte. Er wehrte sich nur reflexartig mit dem Hinweis auf Recht und Gerechtigkeit. Obgleich er nach dem Scheitern aller Versuche, das erste Gutachten nachzubessern, unverzüglich und mit dem Einverständnis des von ihm als erstem Bischof in Deutschland eingerichteten Betroffenenbeirats ein zweites Gutachten bei ausgewiesenen Kölner Strafrechtsexperten in Auftrag gegeben hatte, wurde gemutmaßt, auch dies sei nur Teil einer Vertuschungsstrategie.

Zu einem Spießrutenlauf gehört, dass jeder auf den Sündenbock eindreschen darf. Der Vorwand, man handele voll Empörung über das Leid der Opfer, lud auch viele Amtsbrüder ein, verbal zuzuschlagen. Mal war man von tiefer Sorge über die Vorgänge in Köln erfüllt, mal kreidete man Woelki an, er schade der gesamten Kirche. Alsbald wurden neben den Pandemie-Inzidenzien auch die Kirchenaustrittszahlen in Köln alltäglich vermeldet. Politiker im Zentralkomitee der deutschen Katholiken witterten eine Gelegenheit, die Aufarbeitung des Missbrauchs für die eigene Profilierung zu instrumentalisieren und sich über Woelki zu empören.

Die Pressekonferenz wirkte wie ein Urknall

Dann kam der 18. März 2021. Professor Björn Gercke präsentierte das mit rund 900 Seiten umfangreichste Gutachten, das bislang zum Umgang von Verantwortungsträgern mit sexuellem Missbrauch in Deutschland erstellt worden ist. Das von ihm geleitete Expertenteam aus Strafrechtlern und Kirchenjuristen hatte alle aus den Jahren 1975 bis 2018 auffindbaren Akten eingesehen und sämtliche rekonstruierbaren Fälle abgebildet. Exakt wurden die methodische Herangehensweise erläutert und aus dem weltlichen Straf- und dem kirchlich-kanonischen Recht abgeleitet 5 Pflichtenkreise von Aufklärungs- und Ermittlungs- über Anzeige- und Informations- bis hin zu Sanktionierungs-, Präventions- und Opferfürsorgepflichten definiert, denen kirchliche Verantwortungsträger genügen müssten. Das Anwaltsteam listete 75 Pflichtverletzungen auf, die acht Personen zugerechnet wurden. Namentlich waren dies die verstorbenen Kardinäle Höffner und Meisner sowie der Hamburger Erzbischof und Generalvikar Heße, die Weihbischöfe Schwaderlapp und Puff, der Offizial Assenmacher und der ehemalige Generalvikar Feldhoff. Kardinal Woelki selbst aber war bereits im ersten Gutachten von allem Verdacht, dem Kirchen- oder dem weltlichen Recht nicht entsprochen oder die Missbrauchsaufklärung behindert zu haben, freigesprochen.

Die Pressekonferenz wirkte wie ein Urknall. Kein einziges Bistum hat bislang eine vergleichbar lückenlose Aufklärung geleistet. Nun gehen viele in Deckung, damit sie sich nicht an dem vom Erzbistum Köln etablierten Standard messen lassen müssen.

Noch im Rahmen der Pressekonferenz hatte Woelki Weihbischof Schwaderlapp und Offizial Assenmacher von ihren Dienstpflichten einstweilen freigestellt. Alle in dem Gutachten namentlich genannten Verantwortungsträger haben Versagen eingestanden und ihre Ämter zur Disposition gestellt.

Doch die Schockstarre in den Medien währte nur kurz. Manche mutmaßten, wie Woelki es denn habe zustande bringen können, unbelastet aus der Affäre herauszukommen. Vielleicht, weil nicht mehr alle Akten vorhanden waren oder die Ermittler auch nicht mit allen Betroffenen und Zeugen gesprochen hatten. Diese Einwände räumte Gercke mit kühler Sachlichkeit aus. Dann wurde kritisierte, im Grunde gehe es auch nicht um eine juristische Aufarbeitung, sondern um eine moralische Wertung. 

Woelkis eindrucksvolle Ansprache

Mit einer eindrucksvollen Ansprach eröffnete Woelki die Pressekonferenz am 23. März zu den Konsequenzen aus dem Gutachten. Die Schreie von missbrauchten Kindern und das fehlende Mitgefühl von Klerikern, die den Opfern nicht einmal zu- oder sie angehört hätten, seien ihm gegenwärtig. Auch die Sentenz seiner Mitbrüder „Du schadest uns allen“ klänge in ihm nach. Ihm gehe es um einen grundlegenden Perspektivwechsel: Die Betroffenen gehörten in den Mittelpunkt. Er werfe sich vor, zwar rechtlich einwandfrei gehandelt, aber nicht „alles Menschenmögliche“ unternommen zu haben. „In beschämender Weise“ habe er unzulänglich gehandelt. Das hätte er „erkennen und wissen“ müssen. Die mehr als 300 Betroffenen lud er zu einem Gespräch ein. Er habe auch einen Rücktritt erwogen, doch sehe er dies als einen eher symbolischen Akt an, der für Prävention und Opferfürsorge nichts bringe.

Mit seinem Generalvikar Markus Hofmann hat Woelki einen tatkräftigen Partner gefunden. Mit hohem Tempo werden die im Gercke-Gutachten enthaltenen Handlungsempfehlungen umgesetzt. Hofmann arbeitet nach dem Motto: „Lieber eine Wahrheit, die weh tut, als eine Lüge, die tröstet“.

In acht Themenbereichen fängt man an. Auf Basis einer Rahmenvereinbarung mit dem Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung Röhrig soll in einer unabhängigen Kommission unter Leitung der ehemaligen Ermittlungsrichterin Erika Nagel weiter aufgearbeitet werden. Fünf Millionen Euro ausschließlich aus Klerikereinkünften werden für Anerkennungsleistungen zugunsten der Betroffenen bereitgestellt. Auch Betroffene, die bereits Leistungen erhalten haben, können erneut Anträge stellen. Sanktionen gegen Beschuldigte mit einer Reduzierung ihrer Gehälter sollen kontrolliert und die Interventionsstelle im Erzbistum soll personell verstärkt sowie ein Meldesystem für anonyme Hinweise eingerichtet werden. Die Prävention soll ausgebaut werden, damit Kinder und Jugendliche sowie schutzbedürftige Personen in kirchlichen Einrichtungen einen „sicheren Ort“ finden. Akten sollen manipulationssicher digitalisiert und dauerhaft aufbewahrt werden. Die Priesterausbildung soll reformiert werden, um charakterlich reife und innerlich fundierte Persönlichkeiten heranzubilden. Frauen sollen in die Bildungsarbeit eingebunden und psychologische Prüf- und Analyseverfahren eingerichtet und Pfarrer besser auf Personalleitungsprobleme vorbereitet werden. Die Kirche will sich moderne Governance- und Compliance-Strukturen aneignen.

Dass Woelki in einem Kommentar angekreidet wird, er habe sich als „nicht zuständig, nicht verantwortlich, nicht juristisch belangbar“ dargestellt und mehr Moralität eingefordert wird, zeigt: Der Kampf um Deutungshoheit geht weiter.

Der Autor ist Rechtsanwalt, Unternehmens- und Politikberater und Krisenmanager sowie Vorsitzender der Diözesangruppe Berlin-Brandenburg des Bundes Katholischer Unternehmer.

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