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Stefan Heid: Der Volksgedanke erweist sich als absolut zeitgeistig

Eine römische Tagung über den  Kult des Volkes beleuchtete den Volksgedanken in den liturgischen Bewegungen und Reformen bei Katholiken und Lutheranern. Stefan Heid, Leiter des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft, weist auf konfessionelle Gemeinsamkeiten hin.
Campo Santo Teutonico aus einem Seitenfenster des Petersdoms
Foto: Wikimedia / Johannes Müller ( CC-BY-SA-3.0) | Eine Tagung im Campo Santo Teutonico beleuchtete den Volksgedanken in den liturgischen Bewegungen.

Herr Heid, was hat Sie auf die Idee dieser Tagung gebracht?

Die Tagung wurde zwischen mir und  Markus Schmidt aus Bethel, der vor einigen Jahren Vikar an der Christuskirche in Rom war, aus der Einsicht heraus konzipiert, dass es sogenannte liturgische Bewegungen nicht nur im Katholizismus, sondern auch im Luthertum gab, was wenigen bekannt sein dürfte. Unter Liturgiebewegung verstehen wir einen ziemlich genau darstellbaren historischen Aufbruch seit etwa 1900, der sowohl auf lutherischer wie auf katholischer Seite zu einer umfassenden Umgestaltung der bis dahin eingeübten liturgischen Praxis geführt hat. Im Katholizismus gipfelt dieser Prozess in der bis heute vieldiskutierten Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils. Da lag es nahe, beide konfessionellen Seiten einmal nebeneinanderzustellen und auf Ähnlichkeiten oder Gegensätzlichkeiten oder auch gegenseitige Beeinflussung hin zu befragen.

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War auch eine Bilanz und Bewertung der Liturgiereform 50 Jahre nach dem neuen Messbuch geplant?

Es ging weniger um die Frage, ob diese Reformen wirklich etwas gebracht haben, auch wenn man darüber natürlich nachdenken kann. Es ging aber eher darum, die ganze Sache in den großen geschichtlichen Zusammenhang zu stellen und sowohl theologisch als auch geistesgeschichtlich und gesellschaftlich einzuordnen. Das wiederum war nur möglich, indem sowohl katholische als auch lutherische Fachleute zusammenkamen. Besonders schön war es natürlich für die lutherischen Freunde, dass dies im Vatikan am Sitz des Römischen Instituts der Görres-Gesellschaft am Campo Santo Teutonico geschehen konnte.

Und wie kommt bei der Liturgie das „Volk“ ins Spiel?

Das Thema wurde etwas zugespitzt auf die Frage nach der Rolle des Volkes in den liturgischen Bewegungen, weil wir bis heute ziemlich unreflektiert viele „Volks-Vokabeln“ benutzen: „Volkskirche“, „Volksliturgie“, „Volksaltar“ und so weiter. Wie kommt es, dass Gottesdienst dermaßen aus dieser Brille heraus gesehen wird? Steckt da nicht viel Zeitgeist des 19. und 20. Jahrhunderts drin? Ferner schwingt die Problematik eines kirchlichen Populismus in der Luft, natürlich genauso die Frage der gesellschaftlichen Demokratisierung und Emanzipierung. Wie ließen sich die Liturgischen Bewegungen davon leiten oder womöglich instrumentalisieren? Mit der Liturgischen Bewegung verbindet man die Wende von der Klerusliturgie zur Volksliturgie. Ist das wirklich so einfach oder nicht doch eher heutiges Schablonendenken? Was ist eigentlich das Volk? Sind das nicht Stereotypen, Kampfvokabeln, steht dahinter echte Theologie oder doch nur Soziologie? Ist manche Redeweise sogar toxisch? In diesem Zusammenhang stellt sich auch die bange Frage nach einem Zusammenhang zwischen Liturgischen Bewegungen und der völkischen Ideologie bis hin zu einer nationalsozialistischen Liturgieagenda, die es tatsächlich gab.

Man hat das Mittelalter als Weg
in den Subjektivismus diffamiert und verachtet.

Was waren denn wichtige Erkenntnisse der Tagung?

Zunächst einmal schon allein die genannten Fragestellungen und das Bewusstsein, dass wir uns heute viele falsche oder ungenaue Vorstellungen von den Formen und Absichten der Liturgischen Bewegungen machen. Dabei war die Gegenüberstellung katholischer und lutherischer Liturgiebewegung wichtig. Es gab viele Parallelen, die sich aus den gemeinsamen geistigen und gesellschaftlichen Strömungen des 19. Jahrhunderts ergeben. Es ist offensichtlich, dass der spätromantische Zeitgeist alles auf „Gemeinschaft“ trimmte. Man wollte weg vom Individualismus und Subjektivismus der Aufklärung – aber genau das waren Schablonen, die man auf katholischer wie evangelischer Seite inbrünstig nachbetete. Man hat das Mittelalter als Weg in den Subjektivismus diffamiert und verachtet. Man wollte zur frühen Kirche zurück, die man sich ideal überhöht vorgestellt hat. Alles das wirkt bis heute in einer Geschichtsvergessenheit nach, die das ganze Mittelalter überspringt, um sozusagen direkt auf Jesus zurückzuspringen. Um es nochmals zu sagen: Das Gemeinschaftsgefühl und der Wille der Christen, nicht abseits zu stehen, sondern an der deutschen Volkswerdung teilzuhaben, waren absolut zeitgeistig und haben die Liturgischen Bewegungen beflügelt. Hier ist auch bereits der Generationenkonflikt in Form der Jugendbewegung ein markantes Merkmal.

Hat das Zeitgeistige der Liturgischen Bewegungen zu Fehlentwicklungen geführt?

Zunächst einmal war das natürlich ein positiver Aufbruch, der wohl auch in die Breite ging. Die Liturgischen Bewegungen sind zweifellos Zeichen vertiefter Religiosität. Allerdings muss man katholischerseits auch sehen, dass kirchenamtliche Verlautbarungen immer nur vom Ende her denken und die Liturgiereform nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil ausschließlich in strahlendem Licht sehen. Geschichtswissenschaft ist da ungleich kritikfähiger.

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Können Sie das konkretisieren?

Zum Beispiel kam bei der Tagung die Wort- und Morallastigkeit des lutherischen Gottesdienstes zu Sprache – ein Kind der Aufklärung. Volksbelehrung muss aber keineswegs im Sinne des Volkes sein, kann vielmehr sehr paternalistisch, ja sogar autoritär sein. Der Moralismus ist auch in die überladenen Belehrungen und Erklärungen der katholischen Messfeiern eingedrungen und gipfelt in der verkopften heutigen Liturgie. Umgekehrt ließ sich die lutherische Liturgische Bewegung von der katholischen „Volkstümlichkeit“ beeindrucken. Zugleich muss man aber auch das Klischee hinter sich lassen, der Lutherische Gottesdienst sei nicht auch kultisch und sakramental aufgefasst worden. Gerade auch die Vertreter der evangelischen Liturgischen Bewegung haben die sakrale Würde des Gottesdienstes und Gotteshauses stark empfunden. Umgekehrt gilt es, das Klischee auszuräumen, der katholische Gottesdienst sei vor dem Konzil rein klerikal und ohne aktive Teilnahme der Gläubigen gewesen oder sei ohne Predigt ausgekommen.

Die Kritik am Mittelalter etwa ist ein Topos
jeder Liturgischen Bewegung, und
diese Kritik ist intellektualistisch, von Theologen gemacht.

Da sind also viele Überzeugungen über die vorkonziliare Liturgie, die man heute im Allgemeinen hat, revidiert worden.

Richtig, wir denken noch viel zu sehr in den konfessionellen Klischees des 19. Jahrhunderts. Unser Geschichtsbild fängt bestenfalls im 19. Jahrhundert an, alles vorher interessiert uns nicht mehr. Das ist verhängnisvoll, weil sich die Konfessionen vor dem 19. Jahrhundert womöglich näherstanden als heute. Geschichte ist nicht schwarz-weiß. Die liturgisch Bewegten haben natürlich alles Alte schlechtgeredet, um ihre Reformen durchzubringen. Das sollte man heute nicht mehr nachbeten. Die Kritik am Mittelalter etwa ist ein Topos jeder Liturgischen Bewegung, und diese Kritik ist intellektualistisch, von Theologen gemacht. Eine historisch-kulturgeschichtliche Betrachtung deckt das auf und weist zum Beispiel darauf hin, dass Liturgie nicht nur Wort oder Sakrament ist, sondern auch Raum, Kunst, Musik, Sinnenhaftigkeit in jeder Beziehung. Diese Dimensionen sind sowohl auf lutherischer als auch katholischer Seite außerordentlich reich. Für beide Seiten gilt: Man muss bei der Betrachtung der Liturgie den rein intellektuell-theologischen Blickwinkel verlassen.

Verändert der historische Blick auf die Liturgische Bewegung das Verständnis der vatikanischen Liturgiereform?

Natürlich, in vielfacher Hinsicht. Die weltweit gültige Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils ist im Grunde ein Produkt der europäischen Kirche, ganz wesentlich auch der deutschen Kirche, mit allen Belastungen und Einseitigkeiten einer Zeit, die zwei Weltkriege hervorgebracht hat. Konkret wird aber auch ein Eindruck korrigiert, den man heute haben könnte: Als ob die Liturgie vor dem Konzil überall gleich und durch den Ritus vor Willkür geschützt gewesen sei. Das war mitnichten der Fall. Die grenzenlose Experimentierfreudigkeit hat mit der Liturgischen Bewegung und dem Schlachtruf der „tätigen Teilnahme“ lange vor dem Konzil in die katholische Messe Einzug gehalten. Die Gläubigen haben sich mit unzähligen Varianten von Singmesse, Betsingmesse, Gemeinschaftsmesse und so weiter konfrontiert gesehen und wurden immer stärker reglementiert: gemeinsam stehen, knien, beten, singen, antworten usw. Die postkonziliaren Experimente sind die letzte Steigerung dieses liturgischen Drills. Irgendwann reichte es dann: In den 50er Jahren begann der Exodus der Gläubigen aus der Liturgie, der nun schon seit 70 Jahren anhält.

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