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Maren Gottschalk zeichnet den Weg von Sophie Scholl nach

Maren Gottschalk zeichnet den Weg der deutschen Widerstandskämpferin Sophie Scholl als nachdenkliche, vom Christentum berührte Frau nach.
Wachsfigur von Sophie Scholl in München
Foto: Tobias Hase (dpa) | Sophie Scholl: Ein Vorbild in Mut, Willenskraft und Meinungsfreiheit. Die Wachsfigur von Sophie Scholl in der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Helden geben eine gute Projektionsfläche für das Wunschbild anderer ab. So auch Sophie Scholl, mit der sich jüngst eine junge Rednerin auf einer „Querdenker“-Demonstration verglich, indem sie auf ihren monatelangen Kampf im Corona-Widerstand hinwies. Der leichtfertig dahingesagte Vergleich löste im Netz heftige Reaktionen aus.

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Er zeigt aber auch, dass 77 Jahre nach der Hinrichtung der Widerstandskämpferin durch die Nazis der Name Sophie Scholl unvergessen für Mut, Willenskraft, Meinungsfreiheit steht.
Von diesem starren Mythos will die Autorin Maren Gottschalk mit ihrem Buch „Wie schwer ein Menschenleben wiegt – Sophie Scholl, eine Biographie“ etwas abrücken: Sie zeigt eine lebensfrohe, sportliche, unangepasste Heranwachsende und eine junge Frau mit all ihren Zweifeln, Sehnsüchten und Widersprüchen. Es ist bereits die zweite Biografie, welche die Journalistin über Sophie Scholl vorlegt – ihr Jugendbuch „Schluss. Jetzt werde ich etwas tun“ erschien 2012. Tagebucheinträge sowie Gespräche mit und Memoiren von Mitgliedern der Familie Scholl bildeten die Grundlage für diese erste intensive Beschäftigung mit der Widerstandskämpferin.

In der neuen, umfassender gestalteten Lebensgeschichte konnte die Autorin daher auf einen Fundus von Literatur, Interviews und Wissen zurückgreifen und diesen durch weitere Textquellen ergänzen.
Bekanntlich sind in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche Biografien und Filme über die Mitglieder der Weißen Rose und insbesondere Sophie Scholl entstanden, auf die Maren Gottschalk teilweise auch Bezug nimmt. Eine besonders aufschlussreiche Quelle war für sie der Dokumentarfilm „Kinderland ist abgebrannt“, anhand dessen sie die Atmosphäre Ulms in den 1930er Jahren, Heimatstadt der Scholls in eben jener Zeit, rekonstruieren konnte. So entsteht anhand ihrer Recherchen das beeindruckende Porträt einer vielschichtigen historischen Persönlichkeit, die von ihrem Naturell her vielen Gleichaltrigen ähnelt und die schließlich doch einen ganz eigenen und schwierigen Weg einschlug.

Aus einer begeisterten HJ-Führerin
wird eine entschiedene Gegnerin

Die Abfolge der Kapitel geschieht zunächst nicht chronologisch, sondern startet mit jener Phase, die zum Dreh- und Angelpunkt für das Schicksal Sophie Scholls wurde. Es ist dies der Reichsarbeitsdienst (RAD), den die 19-Jährige 1941 absolvieren musste, und der aus der einstigen begeisterten HJ-Führerin endgültig eine Gegnerin des NS-Systems machte. Im Arbeitslager war sich Sophie ihrer Sonderrolle – nicht nur im politisch-ideologischen Sinne – schon bewusst und hielt sich abseits von den anderen Mädchen, deren „einziger, allerbeliebtester und häufigster Gesprächsstoff“ die Männer seien, wie sie in einem Brief an ihre Freundin schrieb. Von dem stumpfen Alltagsdienst versuchte sie mit „eiserner Konsequenz“ durch abendliche Lektüre Abstand zu nehmen: mit Werken von Thomas Mann und mit den Bekenntnissen des Kirchenvaters Augustinus von Hippo.

Dabei war Sophie kein bücherverschlingender Blaustrumpf – als Kind gerierte sie sich wie ein wilder Junge, trug die Haare glatt und kurz, statt in brav geflochtenen Zöpfen. Im Alter von sechzehn rauchte sie, trank Wein, machte freche Bemerkungen und tanzte ausgelassen Foxtrott. Wie stark und leidenschaftlich sie lieben und auch in einem anderen Menschen Liebe wecken konnte, zeigt Sophies Beziehung zu Fritz Hartnagel. Es war eine sich langsam anbahnende und anfangs von Ungewissheiten und Selbstzweifeln begleitete Liebesbeziehung, die in über 300 Briefen der beiden dokumentiert ist. Dieser ausgiebigen Korrespondenz ist es wohl vor allem zu verdanken, dass eine Innenschau der Protagonistin auf unverstellte Weise möglich ist – denn der Einzige, dem Sophie Scholl Einblicke auch in ihre dunklen Momente gewährte, war Fritz.

Wandel zur Kritikerin bringt auch
Interesse an der Katholischen Erneuerung

Schließlich war sie, wie Maren Gottschalk darlegt, keine furchtlose Heldin. Als die Widerstandsaktionen konkrete Züge annahmen, schilderte sie Fritz „ihren Gefühlszustand als den einer Versinkenden, deren Arme und Beine von unheimlichen Wesen des Meeres mit ihren Schlingarmen umklammert und nach unten gezogen würden. (…) Sie sei wie gelähmt vor Angst und sehne sich nach jemandem, der ihr diese Angst abnehme ...“

Von Haus aus war Sophie Scholl protestantisch geprägt. Im Prozess der Wandlung zur System-Kritikerin ab dem Jahr 1940/41 nahmen die Werke von Autoren des Renouveau catholique – neben den Klassikern von Augustinus – einen bedeutenden Platz ein. Gemeinsam mit den Geschwistern und Freunden, zu denen nun auch der Katholik Otl Aicher zählte, las sie das „Tagebuch eines Landpfarrers“ von Georges Bernanos. Im darin beschriebenen Kampf der Protagonisten gegen die Einwirkungen des Bösen fand sie Parallelen zu ihrem eigenen Leben.

Gott aber verblieb für sie in unerreichbarer Höhe: „Sophie wünschte sich immer wieder ein Zeichen, dass sie von Gott geliebt und angenommen sei“, interpretiert die Biografin Maren Gottschalk Notizen wie diese in Sophies Tagebuch aus dem Jahre 1942: „Lieber brennenden Durst, lieber will ich um Schmerzen, Schmerzen, Schmerzen beten, als eine Leere zu fühlen, eine Leere, und sie zu fühlen ohne eigentliches Gefühl. Ich möchte mich aufbäumen dagegen.“

Widerstandskampf nur bedingt christlich motiviert

Während die Haltung einiger Mitglieder aus dem studentischen Freundeskreis um die Weiße Rose christlich motiviert war, trifft dies auf Sophie Scholl augenscheinlich nur bedingt zu. Ihr fehlte, so Gottschalk, die Sicherheit im Glauben. Für die innere Entwicklung Sophies wie auch ihr Handeln gab es jedoch immer wieder äußere Auslöser, die mit dem christlichen Glauben zu tun hatten: etwa die Verbindung der Geschwister Scholl zu dem katholischen Gelehrten Carl Muth.

Weiterhin fand die Familie Scholl im Winter 1941 Abschriften von Predigten des Bischöfe von Münster im Briefkasten, die Hans und Sophie auf den Gedanken gebracht haben könnten, selbst NS-kritische Texte zu verfassen. „Menschsein, das hieß für Sophie Scholl, Verantwortung zu übernehmen und mit dem Einsatz des Lebens für die Freiheit des Geistes zu kämpfen. Sie wusste um die große Versuchung, sich der Übermacht zu beugen, aufzugeben, sich in die Bedeutungslosigkeit zu flüchten, um nur noch Rinde oder Ackerkrume zu sein.“

Maren Gottschalk: Wie schwer ein Menschenleben wiegt – Sophie Scholl. C.H. Beck, München 2020, 347 Seiten, EUR 24,–

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