Steht der Essener Generalvikar Klaus Pfeffer noch mit beiden Beinen auf dem Boden des Rechtsstaats? Sein jüngstes Plädoyer für einen „gesunden Generalverdacht“ im Kampf gegen sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche lässt Zweifel daran aufkommen. Weder die Tugend der Klugheit noch das Gebot der Nächstenliebe rechtfertigen allerdings einen mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbaren Generalverdacht. Die Europäische Menschenrechtskonvention und das Kirchenrecht sind hier wegweisend.
Unschuldsvermutung geboten
Denn die Menschenrechtskonvention gewährleistet ausnahmslos jedem die strafrechtliche Unschuldsvermutung – bis die Schuld des Angeklagten in einem Verfahren rechtskräftig festgestellt wurde. Normiertes Misstrauen als Vorbeugung gegen potenzielle Missbrauchstäter ist darüber hinaus mit dem Kirchenrecht nicht vereinbar. Das Kirchliche Gesetzbuch erinnert alle Gläubigen ausdrücklich daran, dass niemand den guten Ruf eines anderen rechtswidrig schädigen und das persönliche Recht eines jeden auf den Schutz der eigenen Intimsphäre verletzen darf.
Diskriminierung von Priestern
Dient die Aufforderung des Essener Generalvikars, durch einen "gesunden Generalverdacht" dafür Sorge zu tragen, "kirchliche Systeme zu enttabuisieren und überzogene, falsche Ideale zu hinterfragen“ tatsächlich dem vorbehaltlos anzustrebenden Ziel, künftige Missbräuche zu verhindern? Oder wird hier Missbrauch mit dem Missbrauch getrieben? Warum nennt Essen just das Priesteramt und nicht den statistisch erwiesenermaßen von Missbräuchen viel gefährdeteren Raum der Ehe und Familie?
Missbrauch und Priesteramt in dieser Weise zu verknüpfen ist mehr als fragwürdig – die von Essen herangezogene MHG-Studie ist kein Persilschein für die Diskriminierung von Priestern. Katholische Geistliche sind keine Bürger zweiter Klasse.
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