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Kardinal Müller würdigt Georg Ratzinger

Ein zutiefst ehrlicher Mensch, ein überzeugter Christ, ein verständnisvoller Seelsorger und ein genialer Künstler, dem die Musik Ausdruck der Gottesverehrung war: Die Tagespost dokumentiert die Würdigung in voller Länge.
Kurienkardinal Gerhard Müller
Foto: Paul Badde | Gerhard Kardinal Müller würdigt den verstorbenen Georg Ratzinger.

Im gesegneten Alter von 96 Jahren ist der Regensburger Domkapellmeister Georg Ratzinger den Weg in die Ewigkeit uns vorausgegangen. Angesichts der Endlosigkeit der kosmischen Zeit erscheint der Unterschied zwischen der menschlichen Lebenszeit und dem Erdenaufenthalt einer Eintagsfliege winzig, was schon die vorchristlichen Philosophen resigniert beklagten. Aber der Christ weiß aus dem Glauben, dass der Mensch als von Gott angesprochene Person die Kontingenz seines leiblichen Daseins in der Welt unendlich übersteigt. Die zur Unvergänglichkeit geschaffene Seele (Weish 3, 1-4) findet in der Auferstehung des Fleisches die ewige Lebensgemeinschaft mit Christus, dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn (1 Kor 15,12-58). Denn so spricht Gott zu jedem Menschen, den er nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat: "Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen: Mein bist du." (Jes 43,19). 

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Mitwirken am Aufbau des Reiches Gottes

Im vertieften Sinn ist der am 15. Januar 1924 zur Welt gekommene Georg Ratzinger durch die Taufe in Christus und im Heiligen Geist Gottes, des Vaters, Eigentum geworden, indem er Anteil erhielt an der "Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes" (Röm 8, 21). Zur Einmaligkeit unseres Daseins und zur Endgültigkeit unsere Berufung gehört es auch, mit Hilfe der Gnade seine Persönlichkeit zu entfalten, sowie auch seine individuellen Gaben und Talente zu entdecken. So finden wir Sinn und Ziel unseres Lebens, wenn wir am Aufbau des Reiches Gottes in unseren Herzen und in der Welt mit-wirken. Jeder Christ aufgrund der Taufe und besonders der Priester in der apostolischen Nachfolge ist Mitarbeiter Gottes- cooperator Dei (2 Kor 6,1) und seiner Wahrheit (3 Joh 8).

Schon früh trat Georg Ratzingers musikalische Begabung zu Tage, die so hervorragend gefördert wurde, dass er schließlich von 1964-1994 als Domkapellmeister die Leitung der weltberühmten Regenburger Domspatzen übernehmen konnte. Aber damit fanden nicht nur seine persönlichen Talente ihre optimale Einsatzmöglichkeit. Er hatte schon bei der Priesterweihe 1951 in Freising zum Ruf in den Weinberg des Herrn sein Adsum gesagt und damit -nach dem Vorbild Jesu, des guten Hirten- sein ganzes Leben dem ewigen Heil der Seelen verschrieben. Sein Primizspruch, unter den er sein künftiges priesterlichen Leben und Wirken stellte, ist dem Johannes-Evangelium entnommen, wo Jesus im Hohepriesterlichen Gebet zum Vater sagt: "Wie du mich in die Welt gesandt hast, so habe auch ich sie in die Welt gesandt. Und ich heilige mich für sie, damit auch sie in der Wahrheit geheiligt sind." (Joh 17, 18f).

Nur durch die tiefe Einwurzelung seines Denkens und Urteilens im Heilsgeheimnis Christi hatte Georg als Kind und Jugendlicher dem verführerischen Zauber der zeitgeistigen Ideologie widerstehen und die rohe Gewalt des totalitären Hitler-Regimes überstehen können, um nach dem Krieg mit seinem jüngeren Bruder Joseph, Papst Benedikt XVI. (2005-2013), den Weg zum Weihealtar zu beschreiten.

Musica sacra ist ein integraler Bestandteil
der Liturgie als höchster Form der Gottesverehrung

Priester und Kirchenmusiker

Für Georg Ratzinger war der priesterliche Dienst kein Gegensatz zum kirchenmusikalischen Auftrag. Denn die Musica sacra ist ein integraler Bestandteil der Liturgie als höchster Form der Gottesverehrung und keineswegs nur ein ornamentales Beiwerk (II. Vatikanum, Konstitution über die heilige Liturgie "Sacrosanctum concilium" Art. 112-121). Es ist hier an die zentrale Bedeutung der Regenburger kirchenmusikalischen Tradition zu erinnern, der sich Georg Ratzinger verpflichtet fühlte und zu deren überragendem Vertreter und Erneuer er wurde. 

Seit ich im November 2002 Bischof von Regensburg wurde, lernte ich Domkapellmeister Georg Ratzinger auch persönlich sehr gut kennen. Oft war er bei mir im Bischofshaus zu Gast und ebenso oft habe ich ihn zu verschiedenen Gelegenheiten in seiner Wohnung in der Luzengasse besucht. Zuletzt sahen wir uns in Rom bei seinem Bruder Josef, dem früheren Papst Benedikt XVI., am Anfang dieses Jahres, kurz vor dem Ausbruch der Corona-Krise.

Aus diesen vielen Begegnungen und persönlichen Erfahrungen habe ich diese Überzeugung gewonnen: Georg Ratzinger war ein zutiefst ehrlicher Mensch, ein überzeugter Christ, ein verständnisvoller Seelsorger und ein genialer Künstler, dem die Musik nicht selbst-bezogene Unterhaltung, sondern Gottesverehrung war. In der Musica sacra wird das Herz der Erlösten mit Gottes Freude erfüllt und der Geist zu den Geheimnissen Gottes empor gehoben. Der Mensch wächst über die Enge der Kontingenz hinaus. Er begegnet in Glaube, Hoffnung und Liebe Gott, seinem Schöpfer, Erlöser und Vollender. Das Tiefgründigste, was zur "Theologie der Kirchenmusik" in jüngster Zeit geschrieben wurde, stammt von seinem Bruder Joseph Ratzinger und ist im 11. Band seiner Gesammelten Schriften veröffentlicht. Darin können wir auch das Programm erkennen, dem Georg Ratzinger als Kirchenmusiker beim Regensburger Domchor und in seinem Wirken in der Kirchenmusikalischen Hochschule Regensburg gefolgt ist. Im Zeitalter des Säkularismus vermittelt die Kirchenmusik Transzendenzerfahrung im Lobpreis Gottes und mit der Verkündigung des Evangeliums, dass des Menschen Schicksal nicht der niederschmetternde Nihilismus ist, sondern die lebendig machende Einheit mit Gott in der Liebe.

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Regensburger Domspatzen

Den längsten Abschnitt seiner beruflichen Tätigkeit hat Georg Ratzinger von 1964-1994 dem Regensburger Kathedral-Chor gewidmet. Dieser wird mit seinen z. T. unabhängigen Institutionen des Gymnasiums, des Internates und der damaligen Vorschule und heutigen Grundschule, besonders aber dem Konzertchor und den beiden Nachwuchschören volkstümlich auch "Regensburger Domspatzen" genannt. Den Knabenchor, der auf eine Gründung des hl. Bischofs Wolfgang im Jahr 975 zurückgeht, konnte Georg Ratzinger- in der Gestalt des Konzertchores- durch seine musikalische Kompetenz und seine hervorragende Fähigkeit, mit jungen Menschen gütig und standfest umzugehen, auch mit großen Konzertreisen ins Ausland, zum Weltruhm führen. Er kannte die meisten seiner Buben noch Jahrzehnte nach dem Ende ihrer Domspatzenkarriere beim Namen. Und sie erwiesen ihm ihre anhängliche Dankbarkeit bis in sein hohes Alter. 
Der ungerechte Vorwurf wurde für ihn zu einer starken Belastung, als der fast 90-jährige Mann ab 2010 bezichtigt wurde, seiner Verantwortung angesichts von erzieherischen Übergriffen einzelner Mitarbeiter oder sogar pädokrimineller Vergehen nicht nachgekommen zu sein. Diese ereigneten sich aber vor seiner Zeit bzw. wurden erst nach seinem Ausscheiden bei den zuständigen Stellen der Diözese gemeldet und waren ihm folglich bis dahin nicht bekannt.

Angriffe auf den Bruder treffen ihn

Die Angriffe galten aber nicht ihm, sondern seinem Bruder Papst Benedikt XVI,. in dem man die katholische Kirche treffen wollte, obwohl gerade er als Präfekt der Glaubenskongregation mit Johannes Paul II und dann selbst als Papst die entscheidenden Maßnahmen gegen den sexuellen Missbrauch von Heranwachsenden in die Wege geleitet hatte. 

Mit der Behauptung, dass diese Untaten "systemisch" bedingt gewesen seien, wurde der Eindruck erweckt, die Menschenwürde und das Wohl der jungen Sänger sei auf dem Altar des Ruhms des Chores und des Glanzes des Domkapellmeisters geopfert worden. Wer aber die Bekenntnisse von vielen Beteiligten gehört hat und wer -wie ich selbst seit 18 Jahren- Georg Ratzinger persönlich gut kennt, der weiß, dass sich bei ihm die Forderung musikalischer Höchstleistungen und die persönliche Zuwendung zu den jungen Menschen wechselseitig bedingten. Es ist nur beschämend für unsere Zeit, dass einige von zweideutigen Mediendarstellungen aufgehetzte Passanten sich "moralisch" legitimiert sahen, den alten Domkapellmeister im Rollstuhl auf der Straße anzupöbeln.

All das kann seine Lebensleistung als Leiter eines der weltbesten Knabenchöre und als milder und zugleich väterlicher Freund "seiner Buben" auch über ihre Jugendzeit hinaus nicht mindern oder eintrüben.

Gott möge ihm ein gnädiger Richter sein und in uns das Gefühl der Dankbarkeit wecken für alles, was er als treuer Diener der Kirche für den Aufbau Seines Reiches getan hat. Er bleibt in unser aller Erinnerung ein Vorbild als Christ, Priester, Kirchenmusiker und vielen ein lieber Freund.

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