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Das christliche Leben ist vor allem Dankbarkeit

Im Wortlaut die Ansprache des Heiligen Vaters während der Generalaudienz vom 27. Juni.
Ängste und Zweifel zu haben, sei normal, so Papst Franziskus
Foto: Stefano Dal Pozzolo (KNA) | Papst Franziskus.

Vor der Audienz auf dem Petersplatz begrüßte der Papst die „Deaf Catholic Youth Initiative of the Americas“ und eine Abordnung der Organisation „Special Olympics“ in der Aula Paolo VI

Liebe Freunde!

Herzlich heiße ich die Gruppe „Deaf Catholic Youth Initiative of the Americas“ willkommen. Ich bete dafür, dass Eure Pilgerfahrt, die Ihr „Eine Zeit, um mit Jesus unterwegs zu sein“ genannt habt, Euch zu helfen vermag, in der Liebe zu Christus und füreinander zu wachsen. Jedem, der eine Behinderung hat, bewahrt der Herr einen besonderen Platz in Seinem Herzen, und der Nachfolger des heiligen Petrus tut dies ebenfalls! Ich hoffe, dass die Zeit, die Ihr hier in Rom verbringt, Euch geistlich bereichere und Euer Zeugnis für die Liebe Gottes zu allen seinen Kindern stärke. Ihr setzt Eure Reise fort, und ich bitte Euch, daran zu denken, für mich zu beten. Möge der allmächtige Gott Euch alle reich segnen!

Aus Anlass des fünfzigsten Jahrestags ihrer Gründung richte ich einen besonderen Willkommensgruß an die Abordnung der Organisation „Special Olympics“. Die Welt des Sports bietet den Menschen eine besondere Gelegenheit, im gegenseitigen Verständnis und in der Freundschaft zueinander zu wachsen, und ich bete, dass diese olympische Flamme ein Zeichen der Freude und der Hoffnung im Herrn sein möge, der seinen Kindern die Gaben der Einheit und des Friedens gewährt. Allen, die die Ziele der „Special Olympics“ unterstützen, erteile ich gerne Gottes, des Allmächtigen, Segen der Freude und des Friedens.

Liebe Brüder und Schwestern, guten Tag!

Die Audienz läuft heute so ab wie am vergangenen Mittwoch. In der Aula Paolo VI sind viele Kranke – sie sind dort, damit sie vor der Hitze geschützt sind und es bequemer für sie ist. Doch sie werden die Audienz auf einem Großbildschirm verfolgen und auch wir mit ihnen – es gibt also keine zwei Audienzen. Es gibt nur eine. Grüßen wir die Kranken in der Aula Paolo VI. Und sprechen wir nun weiter über die Zehn Gebote, die, wie wir gesagt haben, nicht so sehr Gebote als vielmehr Worte Gottes an sein Volk sind, damit es gut vorankomme; liebevolle Worte eines Vaters. Die zehn Worte beginnen so: „Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus“ (Ex 20,2). Dieser Anfang scheint mit den wahren und eigentlichen Gesetzen, die folgen, nicht viel zu tun zu haben. Aber so ist es nicht.

Warum macht Gott diese Verkündigung von sich und von der Befreiung? Weil man den Berg Sinai erreicht, nachdem man durch das Rote Meer gezogen ist: der Gott Israels rettet zunächst, dann bittet er um Vertrauen [1]. Das heißt: der Dekalog beginnt mit der Großherzigkeit Gottes. Gott bittet nie um etwas, ohne vorher etwas zu geben. Nie. Zunächst rettet er, zunächst gibt er, dann bittet er. So ist unser Vater, der gute Gott.

Und verstehen wir die Bedeutung der ersten Erklärung: Ich bin Jahwe, dein Gott. Hier haben wir ein besitzanzeigendes Fürwort, es besteht eine Beziehung, man gehört einander. Gott ist kein Fremder: er ist „dein“ Gott [2]. Das erhellt den ganzen Dekalog und offenbart zudem das Geheimnis des christlichen Handelns, denn es ist dieselbe Haltung, die Jesus einnimmt, wenn er sagt: „Wie mich der Vater geliebt hat, so habe auch ich euch geliebt“ (Joh 15,9). Christus wird vom Vater geliebt und er liebt uns mit dieser Liebe. Er geht nicht von sich aus, sondern vom Vater. Häufig scheitern unsere Werke, weil wir von uns selbst ausgehen und nicht von der Dankbarkeit. Und wer von sich selbst ausgeht, wohin gelangt der? Zu sich selbst! Er ist unfähig, es weit zu bringen, er kehrt zu sich selbst zurück. Gerade diese egoistische Haltung ist es, über welche die Leute scherzhaft sagen: „Dieser Mensch ist ein Egoist: ich mit mir und für mich“. Er geht von sich selbst aus und kommt zu sich selbst zurück.

Das christliche Leben ist vor allem die dankbare Antwort an einen großherzigen Vater. Die Christen, die nur „Pflichten“ folgen, zeigen an, dass sie jenen Gott, der „unser“ ist, nicht persönlich erfahren haben. Ich muss das und das und das tun… Nur Pflichten. Da fehlt dir etwas! Was ist das Fundament dieser Pflicht? Das Fundament dieser Pflicht ist die Liebe Gottes, des Vaters, der zuerst gibt und dann anordnet.Das Gesetz vor die Beziehung zu setzen ist für den Glaubensweg nicht hilfreich. Wie kann ein junger Mensch sich wünschen, ein Christ zu sein, wenn wir von Verpflichtungen, Aufgaben, Konsequenzen und nicht von der Befreiung ausgehen? Christ zu sein ist ein Weg der Befreiung! Die Gebote befreien dich von deinem Egoismus und sie befreien dich, weil da die Liebe Gottes ist, die dich voranbringt. Die Herausbildung des Christen beruht nicht auf der Willenskraft, sondern auf der Annahme des Heils, darauf, sich lieben zu lassen: zuerst das Rote Meer, dann der Berg Sinai. Zunächst die Errettung: Gott rettet sein Volk im Roten Meer; am Sinai sagt er ihm dann, was es tun soll. Doch jenes Volk weiß, dass es diese Dinge tut, weil es von einem Vater, der es liebt, gerettet wurde.

Die Dankbarkeit ist ein Wesenszug des Herzens, das vom Heiligen Geist besucht wurde; um Gott zu gehorchen, muss man sich vor allem Seiner Wohltaten erinnern. Der heilige Basilius sagt: „Wer solche Wohltaten nicht vergisst, richtet sich nach der Tugend und nach Werken der Gerechtigkeit aus“ (vgl. Kurzgefasste Regel, 56). Wohin führt uns das alles? Dazu, unser Gedächtnis zu schulen [3]: wie viel Schönes hat Gott für jeden von uns getan! Wie großherzig ist unser himmlischer Vater! Jetzt möchte ich Euch eine kleine Übung vorschlagen, die jeder still für sich in seinem Herzen machen soll. Wie viel Schönes hat Gott für mich getan? So lautet die Frage. Jeder von uns soll sie still für sich beantworten. Wie viel Schönes hat Gott für mich getan? Und das ist die Befreiung Gottes. Gott macht so viel Schönes und er befreit uns.

Und doch kann jemand das Gefühl haben, die Befreiung Gottes noch nicht wirklich erfahren zu haben. Das kann passieren. Es könnte sein, dass man in sich schaut und nur das Gefühl der Pflicht findet, eine Spiritualität von Sklaven und nicht von Kindern Gottes. Was soll man in so einem Fall tun? Das, was das erwählte Volk getan hat. Im Buch Exodus heißt es: „Die Israeliten stöhnten noch unter der Sklavenarbeit; sie klagten und ihr Hilferuf stieg aus ihrem Sklavendasein zu Gott empor. Gott hörte ihr Stöhnen und Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. Gott blickte auf die Söhne Israels und gab sich ihnen zu erkennen“ (Ex 2,23-25). Gott denkt an mich.

Das befreiende Handeln Gottes, das an den Beginn des Dekalogs – das heißt der Zehn Gebote - gestellt wird, ist die Antwort auf dieses Klagen. Wir retten uns nicht von allein, doch von uns kann ein Hilferuf ausgehen: „Herr, erlöse mich, Herr, zeig mir den Weg, Herr, liebkose mich, Herr, schenk mir ein wenig Freude“. Das ist ein Ruf, der um Hilfe bittet. Das müssen wir tun: bitten, vom Egoismus, von der Sünde, von den Fesseln der Knechtschaft befreit zu werden. Dieser Ruf ist wichtig, er ist ein Gebet, er zeigt, dass wir uns dessen bewusst sind, was in uns noch unterdrückt und unfrei ist. Es gibt viele Dinge in unserer Seele, die noch unfrei sind. „Erlöse mich, hilf mir, befreie mich“. Das ist ein schönes Gebet an den Herrn. Gott wartet auf diesen Ruf, weil er unsere Ketten zerreißen kann und will; Gott hat uns nicht ins Leben gerufen, um unterdrückt zu bleiben, sondern um frei zu sein und in der Dankbarkeit zu leben, indem wir freudig Dem gehorchen, der uns so viel gegeben hat, unendlich viel mehr, als wir ihm jemals geben können werden. Das ist etwas Schönes. Möge Gott immer gepriesen sein für alles, was er an uns getan hat, tut und tun wird!

[1] In der rabbinischen Tradition findet sich hierzu ein aufschlussreicher Text: „Warum wurden die Zehn Worte nicht am Anfang der Tora verkündigt? […] Womit kann man sie vergleichen? Mit einem, der, als er die Regierung einer Stadt übernahm, die Einwohner fragte: ,Darf ich euch regieren?‘. Doch sie antworteten: ,Was hast du Gutes für uns getan, dass du beanspruchst, uns zu regieren?‘. Nun, was tat er da? Er baute ihnen Schutzmauern und ein Kanalsystem, um die Stadt mit Wasser zu versorgen; dann führte er Kriege für sie. Und als er erneut fragte: ,Darf ich euch regieren?‘, antworteten sie ihm: ,Ja, ja‘. So hat auch das Wort Israel aus Ägypten geführt, das Meer für es geteilt, Manna für es vom Himmel fallen und Wasser aus dem Brunnen strömen lassen, ihm Wachteln geschickt und schließlich den Krieg gegen Amalek für es geführt. Und als er sie fragte: ,Darf ich euch regieren?‘ haben sie ihm geantwortet: ,Ja, ja‘“ (Il dono della Torah. Commento al decalogo di Es 20 nella Mekilta di R. Ishamael, Rom 1982, S. 49; eigene Übs.).
[2] Vgl. Benedikt XVI., Deus caritas est, 17: „Die Liebesgeschichte zwischen Gott und Mensch besteht eben darin, daß diese Willensgemeinschaft in der Gemeinschaft des Denkens und Fühlens wächst und so unser Wollen und Gottes Wille immer mehr ineinanderfallen: der Wille Gottes nicht mehr ein Fremdwille ist für mich, den mir Gebote von außen auferlegen, sondern mein eigener Wille aus der Erfahrung heraus, daß in der Tat Gott mir innerlicher ist als ich mir selbst. Dann wächst Hingabe an Gott. Dann wird Gott unser Glück“.
[3] Vgl. Predigt bei der Frühmesse im Domus Sanctae Marthae, 7. Oktober 2014: „[Was bedeutet Beten?] Es bedeutet, vor Gott unserer Geschichte zu gedenken. Denn unsere Geschichte ist ,die Geschichte seiner Liebe zu uns‘“. Vgl. „Detti e fatti dei padri del deserto“ [Sprüche und Taten der Wüstenväter], Mailand 1975, S. 71: „Das Vergessen ist die Wurzel allen Übels“.

Ein Sprecher verlas folgenden Gruß des Heiligen Vaters an die Besucher aus dem deutschen Sprachraum:

Gerne heiße ich die Brüder und Schwestern deutscher Sprache willkommen. Besonders grüße ich die verschiedenen Schulgruppen, die an dieser Audienz teilnehmen. Der Anfang des Dekalogs erinnert uns daran, dass Gott uns zuerst geliebt hat. Unser Leben nach den Geboten ist Antwort auf das liebende Handeln Gottes und Ausdruck unserer Dankbarkeit. Der Heilige Geist schenke uns stets seine Gnade.

Übersetzung aus dem Italienischen von Claudia Reimüller

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