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„Wir sind alle Bettler“

Lutherausstellung in Maria Laach: Pater Augustinus Sander OSB betrachtet den Wittenberger Mönch im Licht der Vätertheologie. Von Regina Einig
Pater Augustinus Sander OSB
Foto: IN | Pater Augustinus Sander OSB.

Seit Montag hat in der Benediktinerabtei Maria Laach die Ausstellung „Luther in Laach“ ihre Pforten geöffnet, ein Kooperationsprojekt mit dem Landesbibliothekszentrum Rheinland-Pfalz (LBZ). Bis zum 24. August will sie einen Impuls zum Reformationsgedenken geben und Luther anhand ausgewählter Exponate weder isoliert noch verklärend zeigen. Regina Einig sprach mit Pater Augustinus Sander OSB, freier Mitarbeiter des Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik in Paderborn seit vielen Jahren im Dienst der Ökumene- und Lutherforschung.

Luther wollte die Kirche reformieren und gilt daher manchen als „Reformkatholik“. Dem gegenüber steht das harte Wort des Wittenberger Mönchs vom Papst als Antichrist, was an seiner Katholizität zweifeln lässt. Lässt sich datieren, ab wann Luther nicht mehr katholisch war?

Es war Joachim Wanke, der inzwischen emeritierte Bischöfe von Erfurt, der Luther als „Reformkatholiken“ bezeichnete. Bei einer Podiumsdiskussion im Jahr 2001 formulierte er ganz prägnant: „Luther hat bekanntlich keine neue Kirche gewollt. Er hat die Kirche reformieren wollen, ja er war ein Reformkatholik.“ Reformkatholizismus – dabei denken Theologen meist an eine so bezeichnete, teilweise durchaus liberale Strömung Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts. Bischöfe Wanke meinte natürlich etwas anderes. Es geht ja vielmehr darum, im theologischen Ansatz Luthers etwas als Synthese zu verstehen, was üblicherweise getrennt und in Widerspruch zueinander gesetzt wird. Luther verbindet Katholizität und Reform zu einer Synthese – einer gewiss spannungsreichen Synthese. Doch sein Ansatz des „simul“, des „Zugleich“ zieht sich wie ein roter Faden durch seine Theologie und die des frühen Luthertums. Die sichtbare, erkennbare und wahrnehmbare Kirche bedarf zu allen Zeiten der Erneuerung, um katholisch zu bleiben, und doch ist die Kirche als göttliche Wirklichkeit zu allen Zeiten immer schon von Gott her vor-„gegeben“ („ecclesia perpetuo mansura“ – Augsburgisches Bekenntnis, Artikel 7).

Doch steht Luthers Wort vom Papst als „Antichrist“ nicht dazu im unversöhnlichen Gegensatz?

In der Tat ist hier anscheinend eine Grenze erreicht, die für einen Katholiken nicht mehr zu überschreiten ist. Doch ist es wichtig, zu differenzieren, um Luthers anstößige Aussage in den richtigen Kontext einzuordnen. Luther fällt hier kein ethisches Urteil. Er kritisiert weder moralische Verfehlungen des Papstes noch macht er Aussagen über dessen Heilsstand. Die mittelalterlichen Bildern vom Weltgericht waren demgegenüber von schonungsloser Eindeutigkeit: So konnten die katholischen Gläubigen nicht selten kirchliche Amtsträger mit Bischöfe Mitra und päpstlicher Tiara sehen, die zur Linken des Weltenrichters auf der Seite der Verdammten standen.

Worum ging es Luther dann?

Luther geht es jedoch allein um lehrmäßige Aussagen über die Frage, wie der Mensch ins Heil kommt und im Heil bleibt. Luther als strenger Augustinist meint, dass die offizielle, wie er meint, vom Papst vertretene oder zumindest geduldete Lehre pelagianisch ist und den Gnadencharakter der Rechtfertigung und Heiligung beeinträchtigt. Ob dem tatsächlich so war – darüber lässt sich natürlich bis heute trefflich streiten. Immerhin bleibt zu berücksichtigen, dass die antipelagianischen Entscheidungen des Konzils von Orange den zeitgenössischen Theologen unbekannt waren und erst kurz vor dem Konzil von Trient wieder allgemein zugänglich wurden.

Die Frage des „Papa haereticus“, also des Papstes, der falsche Lehre vertritt, ist zudem eine vor allem in der zeitgenössischen katholischen Kanonistik erörterte Denkmöglichkeit. Schließlich muss unterstrichen werden, was der katholische Lutherforscher Peter Manns immer wieder betont hat: Wenn Luther vom Papst als „Antichristen“ spricht, ist das zugleich ein klares Bekenntnis zur Katholizität der Kirche. Denn der Antichrist ist nur innerhalb der wahren katholischen Kirche zu finden! Via negationis kann Luther sagen – auch wenn es für katholische Ohren zunächst ungeheuerlich klingen mag –, dass nur da, wo der Antichrist ist, auch die katholische Kirche ist. Das ist eine eschatologische, polemische Spitzenaussage. Luther meinte, das Ende der Welt stünde bevor – und zugleich hält er daran fest, dass „unter dem Papsttum“ alles zum Heil Erforderliche – die Schrift, die Sakramente, das Amt – vorhanden ist – wenn auch in teilweise reformbedürftiger Gestalt.

Aber was sagt das über Luthers Selbstverständnis aus?

Es kann daher für Luther niemals darum gehen, eine von Rom getrennte, „neue“ Kirche zu gründen. Da wäre eine für ihn völlig absurde Vorstellung. Freilich besteht für ihn innerhalb zeitgenössischen katholischen Kirche „unter dem Papst“ ein „status confessionis“, eine Verpflichtung zum Bekenntnis angesichts für Luther augenscheinlicher Missstände in Lehre und Praxis.

Gibt es eine Zäsur, die sich auch zeitlich festmachen lässt?

Die Frage, wann Luther nicht mehr katholisch war, lässt sich meines Erachtens nicht einfach mit einer Jahreszahl beantworten. Seinem Selbstverständnis nach war und blieb er Katholik. Man kann und wird dies selbstverständlich in Zweifel ziehen können, sollte jedoch nicht in den Fehler verfallen, aus Luthers hochpolemischen, nicht selten einseitig überspitzten Aussagen eine antikatholische „Lutherdogmatik“ zusammenzustellen. Der Versuch einer ökumenischen „relecture“ etwa der Sakramententheologie Luthers, der im Frühjahr dieses Jahres in Rom in einer gemeinsam verantworteten Tagung des Päpstlichen Einheitsrates, der Gregoriana und des Paderborner Johann-Adam-Möhler-Instituts für Ökumenik unternommen wurde, zeigte jedenfalls größere reformkatholische Schnittmengen, als zunächst vermutet.

War die Entstehung der „lutherischen Kirche“ eine Entwicklung, die Luther nicht gemäß war?

Da kann ich mich auf ein Zitat von Wolfhart Pannenberg, den inzwischen verstorbenen lutherischen Systematiker in München, beschränken: „Die Spaltung der Kirche im sechzehnten Jahrhundert kann ja nicht als Erfolg der Reformation, sondern kann nur als Ausdruck ihres vorläufigen Scheiterns verstanden werden, zielte die Reformation doch auf eine Erneuerung der ganzen Kirche aus ihrem biblischen Ursprung.“

Aber widerspricht der Gang der Geschichte dieser These nicht?

Meines Erachtens besteht die Tragik darin, dass aus der zunächst innerkatholisch verorteten Wittenberger Reformbewegung schließlich eine von Rom getrennte eigenständige lutherische Konfessionskirche wurde. Dabei ist freilich auch klar, dass es dann zunehmend nicht mehr primär theologische Faktoren waren, die zur Konfessionsbildung und zur Konfessionalisierung führten, sondern durchaus auch handfeste machtpolitische Gründe.

Augustinus und Bernhard von Clairvaux haben Luther geprägt. Inwiefern spiegelt sich dieser Einfluss in seinen Schriften?

In der Tat kann der bleibende Einfluss Augustins und Bernhards auf die Theologie Luthers kaum hoch genug angesetzt werden. Luther war auf den Namen „Martinus“ getauft worden, trug aber im Orden den Namen „Augustinus“. Als Augustiner-Eremit lebte er nach der Augustinusregel, die er noch 1539 – also längst nach seiner klösterlichen Zeit – wertzuschätzen wusste. Schon im Noviziat und dann natürlich auch in seiner Zeit als Professor las er die Schriften des Kirchenvaters, etwa dessen Psalmenkommentar oder „Vom Geist und Buchstaben“. Philipp Melanchthon erwähnt in seiner Lebensbeschreibung Luthers: „Alle Werke des Augustinus hatte er oft gelesen und bestens im Gedächtnis.“ Gerade die Frontstellung Augustins gegen die Pelagianer, die seiner Meinung nach die Gnadenhaftigkeit des Rechtfertigungsgeschehens beeinträchtigten, ist für Luther prägend. Es ist von besonderem Gewicht, dass Luthers letztes, im Angesicht des Todes schriftlich festgehaltene Wort ein Augustinuszitat darstellt: „Wir alle sind Bettler.“

Und Bernhards Einfluss?

Was nun Bernhards Einfluss angeht, so wird der „divus Bernhardus“ etwa 500 Mal durchweg positiv in Luthers Werken zitiert. Gerade der niederländische Luther- und Bernhardforscher Theo Bell hat dies schon vor Jahren in einer exzellenten Studie aufgezeigt. Bereits vermittelt durch seinen Erfurter Novizenmeister Johann Greffenstein kommt Luther mit dem Theologen Bernhard in Berührung; dieser galt in den Kreisen des Humanismus „als der letzte der Väter, aber sicherlich nicht geringer als die ersten“ (Nicolas Faber). Bernhards Art, Theologie zu treiben, ist der der klassischen Kirchenväter zu vergleichen. Von Bernhard lernt Luther eine Theologie, die die Heilszusagen Gottes Gottes nicht nur „an sich“ wahr sein lässt, sondern „für mich“ durch den Glauben persönlich erschließt. Diese typisch „applikative“ Theologie wird Luther lebenslang prägen. Erstmals entdeckt er sie in Bernhards Predigt vom Fest der Verkündigung Mariens – einer Predigt, die ihm der Novizenmeister Greffenstein zu lesen gegeben hatte.

Inwieweit hat Bernhards Kreuzestheologie bei Luther Spuren hinterlassen?

Bernhard und Luther vertreten zudem eine ganz auf den gekreuzigten Herrn konzentrierte antispekulative „Philosophie“. Bernhard sagt es so: „Dies ist einstweilen meine höhere Philosophie: Jesus zu kennen, und zwar als den Gekreuzigten.“ Luther schreibt, um nur ein Beispiel anzuführen, in vergleichbarer Weise an seinen Mitbruder Georg Spenlein, Augustiner in Memmingen: „Darum, lieber Bruder: lerne Christus und zwar als den Gekreuzigten.“ Der 2014 verstorbene Künstler Werner Franzen hat für den Altenberger Dom eine Bronzeskulptur geschaffen, die den „Amplexus“ darstellt: Der Gekreuzigte neigt sich vom Kreuz herab und umarmt die beiden großen Kreuzestheologen Bernhard und Luther.

Von theologischem und nicht zuletzt ökumenischem Interesse dürfte es sein, dass die erste der 1517 veröffentlichten Ablassthesen Luthers unmittelbar unter bernhardinischem Einfluss steht: „Wenn unser Herr und Meister Jesus Christus sagte, ,Tut Buße‘, wollte er, dass das ganze Leben der Glaubenden Buße sei.“ Luther argumentiert hier ganz im Sinn der Predigt Bernhards (Quad 33, 3) über das Fastenkapitel der Benediktsregel. Dadurch wird exemplarisch deutlich, dass Luther in den Ablassthesen von 1517 „katholischer“ schreibt als üblicherweise angenommen.

Wie stellen Sie sich eine Relecture von Luthertexten vor?

Zugebenermaßen macht es Luther einem mitunter nicht leicht, ihn zu verstehen. Sein cholerisches Temperament (das er übrigens mit Bernhard von Clairvaux teilt), seine teilweise hochpolemische Sprache und auch der denkerische Ansatz einer spannungsreichen Synthese im Sinn des „simul“ bleiben eine Herausforderung. Dennoch bleibt es für ein ehrliches Verstehen unverzichtbar, nicht bei dem stehen zubleiben, was Luther sagt. Vielmehr muss bei jeder Aussage zunächst nach der Urspungsgeschichte gefragt werden: Woher hat Luther das, was er sagt? Seine oft überraschende katholische Ursprünglichkeit, etwa seine Verwurzelung in der Vätertheologie, ist dann freilich nur das Eine. Zugleich ist nämlich die Wirkungsgeschichte von Interesse.

Was wurde aus dem, was Luther gesagt hat?

Unter Umständen lassen sich ganz unterschiedliche Wirkungsgeschichten (im Plural!) ausmachen: Ich erkenne erstens ein vorkonfessionelles Verständnis, das Katholizität und Reform nicht als Gegensatz, sondern als reformkatholische Synthese auffasst. Zweitens gibt es den konfessionellen Zugang, der das Bekenntnis als „status confessionis“ nicht mehr inner-römisch-katholisch verortet, sondern als Sammlung von Bekenntnisschriften einer von Rom getrennten Konfessionskirche interpretiert. Drittens: Das konfessionalistische Verständnis ist Ausdruck einer strikt anti-katholischen Haltung (in Reaktion auf eine anti-lutherische Polemik), die letztlich zur Dialogverweigerung führt. Diese verschiedenen Verstehens- und Rezeptionsweisen lösen sich nicht einfach im Lauf der Zeit ab, sondern können bis heute gleichzeitig nebeneinander bestehen. Einen transkonfessionellen Neuansatz bietet viertens der ökumenische Dialog, der vom Faktum der inzwischen erfolgten Konfessionsbildung ausgeht, die Bedeutung der Theologie Luthers und des frühen Luthertums aber dennoch konfessionsübergreifend versteht. Von daher darf man gespannt sein, in welcher Verstehensrichtung sich „2017“ bewegen wird.

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