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„Mensch Maria“: Ein modernes Mysterienspiel über die Gottesmutter begeistert in Kevelaer das Publikum. Von Heinrich Wullhorst
Maria weiß aus Erfahrung, was Leiden bedeutet
Foto: Bischöfliche Pressestelle Münster/Gerhard Seybert | Maria weiß aus Erfahrung, was Leiden bedeutet und wie man es richtig trägt. Darum tragen die Menschen ihre Kreuze zu ihr. Szenenfoto aus dem Mysterienspiel.

Kevelaer (DT) „Es war wunderbar, nur ein wenig lang“, bringt es die Dame, die das 80. Lebensjahr bereits einige Zeit hinter sich gelassen hat und nun mit ihrem Rollator am Samstagabend nach Hause strebt, in niederrheinischer Knappheit auf den Punkt. Mit dem Marienmysterium im Wallfahrtsort Kevelaer ist ein Musikexperiment gelungen, das man als einzigartig bezeichnen muss. Dreieinviertel Stunden dauert das in dreizehn Szenen gesetzte Wechselspiel aus großen Chorstücken, opernhaften Arien und filmreifen Massenszenen. Und schnell wird den mehr als 1 200 Zuschauern auf den extra aufgestellten Tribünen auf dem Kapellenplatz vor der Marienbasilika klar: Hier ist dem Komponisten Elmar Lehnen und dem Texter Bastian Rütten ein epochales Werk gelungen. Und mit ihrem minutenlangen Schlussbeifall zeigen sie, welchen Eindruck es bei ihnen hinterlassen hat.

Das 375. Jubiläum der Wallfahrt zur Trösterin der Betrübten, als die die Gottesmutter in Kevelaer besonders verehrt wird, bietet einen würdevollen Rahmen, um ein solches musikalisches Ereignis auf den Weg zu bringen. Und so kann der Rektor der Wallfahrt, der designierte Münsteraner Weihbischof Rolf Lohmann, am Ende der Veranstaltung stolz feststellen: „Ich bin tief beeindruckt, das war eine ganz große Leistung aller Beteiligten und ein großes geistliches Ereignis zum Ende der Festwoche“, sagt er. Eine Woche lang hat man in Kevelaer bereits an die Einsetzung des Bildstocks der Consolatrix Afflictorum im Jahre 1642 erinnert.

Den Organisatoren des Marienmysteriums ist es unter dem Titel „Mensch Maria“ gelungen, die menschliche Seite Marias in der Zuwendung zu ihrem Sohn, aber auch in der Zuwendung zu ihren Kindern unserer Zeit zu dokumentieren. Und so lässt Texter Rütten die von der mit der stimmstarken Mezzosopranistin Annette Gutjahr herausragend verkörperte Mutter Gottes immer wieder sagen: „Was sind die richtigen Fragen?“ Und Maria macht deutlich, dass sie nie selbst die Antwort war, sondern lediglich selbst die Frage, die von Gott auf den Weg gebracht und begleitet wurde. „Maria ist uns so besonders, weil sie uns so alltäglich ist. Sie hilft uns auf, wenn wir fallen.“ Mit auf den Punkt gebrachten Texten wie diesen zeigt der durch das Stück begleitende Sprecher Dirk Tecklenborg die Bezüge zwischen der biblischen Gestalt Maria und ihrer Bedeutung für unsere heutige Zeit auf.

Das Musikwerk präsentiert die dramatische Geschichte einer jungen Frau, die von Gott ausgewählt wird, ein besonderes Momentum im Lauf der Zeiten mit zu gestalten. Durch sie wird Gott Mensch. Und das stellen die Macher des Festspiels in einer ergreifenden Sensibilität dar. Weiße Rosen symbolisieren die Ankunft des Messias. Mit ihnen begibt sich die Mutter Gottes zu den Menschen und verteilt die Blumen im Publikum. So wird das Kind in der Krippe für alle Menschen bis in die heutige Zeit hinein erreichbar und im Wortsinne begreifbar. Doch die Geschichte Mariens, dieser jungen Frau, die so voller Neugier und Freude am Leben ist, ist, wie die gesamte Menschheitsgeschichte, eben nicht nur eine der Fest- und Jubeltage. Schon kurz nach der Geburt muss sie sich mit ihrem Sohn auf die Flucht begeben, um in Ägypten Zuflucht vor dem Kindermörder Herodes zu finden. Die dramatische Musik, die Elmar Lehnen sich gerade für Momente wie diese ausgedacht hat, nimmt die Zuhörer in ganz besonderer Weise mit auf den Weg und spiegelt ein Stück weit die Verzweiflung der Muttergottes wider.

Glänzende Darsteller wie Wiltrud de Vries (Sopran) und Bernhard Scheffel (Tenor) sind ebenbürtige Gesangspartner von Annette Gutjahr. In besonders überzeugender Weise lässt Basssänger Alan Parkes (Bass) seine tiefe, tragende Stimme in den unterschiedlichen Facetten der göttlichen Dreifaltigkeit über den Kapellenplatz schallen. Das sind einzigartige Momente andächtiger Ruhe, die die Zuhörer gleichsam ergriffen, wie aufmerksam machen. Zu dieser Musik hat Bastian Rütten nicht etwa lediglich die Texte des Evangeliums in Episoden gepackt, um dem Stück eine Struktur zu geben. Er hat sie mit theologischer Feinsinnigkeit zu einem spannungsreichen Netz verwoben und schafft mit seinen gesetzten Worten die richtige Mischung aus göttlicher Botschaft und menschlicher Erfahrung. Er legt so den dramaturgischen roten Faden, der die Menschen auf dem Kapellenlatz spüren lässt, dass die Einzigartigkeit von „Mensch Maria“ nicht nur von Elmar Lehnens ausdrucksstarker Musik geprägt ist. Es benötigt vor und hinter den Kulissen viele Akteure, um eine solche Tiefe in Gesang und Spiel zu erreichen. Professionell in Szene gesetzt von den Regieprofis Peter van Aar und Dorette Ploegmakers erhalten die etwa 250 Mitwirkenden des Stückes ausreichenden Raum für ihr Spiel, sorgen die großen Tanzszenen, wie die der Hochzeit zu Kana, die Begegnung von Hirten und Königen vor der Krippe oder die Menschen mit ihren unzähligen Kreuzen des Alltags vor dem Kreuz des Erlösers für Momente, die die begeisterten Besucher noch lange Zeit nach der Aufführung bewegen werden. Das Sinfonieorchester schafft dabei, auf den Punkt dirigiert vom Komponisten selbst, eine sichere musikalische Basis für die beiden Chöre aus Kevelaer und Nettetal, sowie für die Solisten.

Zu den Höhepunkten der Aufführung gehört die dramatische Beschreibung des Kreuzestodes und die Rolle der Gottesmutter als Mater Dolorosa unter dem Kreuz. Bevor der Mensch gewordene Gott sein Sakko, das er zuvor, gleichsam als Sinnbild seines Lebens unter den Menschen trägt, an einen Nagel in der Mitte des Kreuzes hängt und dann die Szenerie verlässt, lassen die Solisten das Publikum beim „Stabat Mater“ noch einmal auf die Mutter schauen, die unter dem Kreuz steht und nach der Freude über die Geburt ihres Sohnes nun das Leid und den Schmerz des Todes ertragen muss. In dem eindrucksvoll, von Gutjahr, Parkes, de Vries und Scheffel ohne Begleitung des Orchesters vorgetragenem Wechselgesang werden Trauer und Verlust Mariens begreifbar. Auch hier präsentieren die Entwickler des Stückes erneut den Menschen Maria, der die Erfahrungen, die Menschen im Alltag machen, selbst durchlebt hat, der alle Fragen kennt, die die Menschen an Gott haben. Auch die des Zweiflers, der in der Darstellung durch Bernhard Scheffel immer wieder provoziert: „Wo ist Gott im Leid? Wo war er in Auschwitz und Birkenau? Wo ist er in Aleppo? Wo ist er bei denen, die am Leben zugrunde gehen?“

Mit der eigenen Erfahrung ihres Schmerzes kann Maria bis heute als Trösterin der Betrübten den Menschen Hoffnung geben. Das ist eine der tragenden Botschaften des Marienmysteriums. Die Menschen, die in dieser Zeit mit den Kreuzen ihres Lebens zu ihr kommen, sind von Krankheit gezeichnet, von einer Sucht aus der Bahn geworfen, vom Tod betroffen, im Leben allein oder mit einem Partner an einer Weggabelung angekommen, gescheitert oder auf der Flucht. Ihnen spricht Maria über ihre Kreuze hinweg Trost zu.

Das Marienspiel endet mit der Himmelfahrt der Mutter Gottes. Und wieder ist es die weiße Rose, die diesen Weg der Gottesmutter verkörpert. Was von Maria bleibt, macht Erzähler Dirk Tecklenborg an dieser Stelle noch einmal deutlich: „Ihr Zeugnis, ihr Rat, ihre Nähe, ihr mütterliches Ohr für unsere Fragen. Sie bleibt den Menschen Trösterin.“ Und während die Chorsänger und Statisten mit den Kerzen der Lichterprozession an der Bühne vorbeiziehen, nimmt er Bezug auf die in Kevelaer ständig von den Menschen entzündeten Opferkerzen: „Jede Kerze, die brennt, sagt den Finsternissen der Welt und den Finsternissen der Zeit das Ende an.“

„Alles auf Anfang“, heißt es im Prolog des Stückes, in dem der Bogen von der Schöpfung über das Leben Marias bis ins Heute geschlagen wird. Ein neuer Anfang ist mit dem Werk „Mensch Maria“ auch in Kevelaer gemacht. Sicherlich auch in dem gelungenen Versuch, den Menschen die Muttergottes in einer ganz neuen Sprache nahezubringen: Der Sprache der Musik. Aber eben ganz anders, als man es bisher kennt. Nicht mit dem oft im Blick auf die Gottesmutter vorfindbaren musikalischem Zuckerguss, sondern mit unterschiedlichen Stil- und Ausdrucksformen. So verwendet Lehnen in seinem Werk eine Mischung diverser Musikelemente, in der man die Tradition großer Arien und Choräle ebenso wiederfindet wie Anleihen aus der Welt der Filmmusik, des Musicals oder des Jazz.

Vielleicht ist es ja genau das, was Papst Franziskus gemeint hat, als er vor einiger Zeit davon gesprochen hat, die Kirchenmusik müsse „die Herzen der Menschen vibrieren“ lassen. Er wünscht sich für eine zeitgenössische Kirchenmusik, dass sie „die Worte Gottes in Gesang, Klang und Harmonie übersetzt“. Und das ist Elmar Lehnen und seinem Team großartig gelungen. Und so waren die 2 500 Menschen, die an zwei Abenden in Kevelaer diesen Kunstgenuss erleben durften dann auch hoch begeistert. Selbst, wenn 's „ein wenig lang“ war.

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