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Sind alle Menschen Kinder Gottes?

In unserer Zeit stellt sich immer mehr die Frage, ob und inwiefern wir in allen Menschen Kinder Gottes sehen dürfen. Eine Differenzierung ist geboten.
Taufe eines Kindes
Foto: IN | Mit der Taufe wird ein Kind in die Kirche aufgenommen.

Gerade im Dialog mit den nicht-christlichen Religionen muss die Frage nach der Gotteskindschaft differenziert betrachtet werden. Es geht nach dem Grundsatz: qui bene distinguit, bene docet („Wer gut unterscheidet, lehrt gut“).

Ja

Grundlage der Gotteskindschaft ist Gen 1,26, auch wenn dies dort mit anderen Worten zum Ausdruck kommt. In der nicht bildhaft ausmalenden Erzählung, sondern im formelhaft aufzählenden Bericht von Gen 1 ist der Wechsel in die erste Person Plural als Teilnahme an einem Selbstgespräch Gottes ein Höhepunkt, der entsprechend zu würdigen ist. Karl Barth beschreibt in seiner Dogmatik (III/2) Gen 1,26 als „ein Gespräch Gottes mit sich selbst, eine Beratung wie zwischen mehreren göttlichen Beratern und eine darauf begründete göttliche Beschlussfassung“.

Dieses „wie“ darf freilich gerade im Kontext von Gen 1 nicht anthropomorph verstanden werden, als ob es da miteinander beratende Personen gäbe. Aber eine Kommunikation als Selbstgespräch ist dem Text durchaus zu entnehmen. Das heißt, dass anstelle der Idee eines bloßen Prinzips als Quelle von Emanationen oder eines unbewegten Bewegers ein sich selbst Bewegender tritt, dessen „göttliche Beschlussfassung“ einen besonderen Anstoß initiiert. „Anstoß“ meint hier keine Kettenreaktion, sondern einen Aufruf aus personalem Entschluss, der in entsprechender Verantwortung vernommen werden kann und soll.

In dieser biblisch-heilsgeschichtlichen Sicht kann Gen 1,26 im Licht von Jak 1,17–18 interpretiert werden. Da steht zunächst betont vorangestellt, im Griechischen „bouletheis“: aus (freiem) Entschluss. Die Initiative „lasset uns einen Menschen machen“ kann nicht aus Notwendigkeit hervorgehen, sondern nur aus freier Zuwendung. Es geht ja darum, so am göttlichen Leben teilzunehmen, dass der unsichtbare Gott in seinem Geschöpf als Bild oder Statue sichtbar wird. Freie Verantwortung – eine tautologische Formulierung, die den entscheidenden Punkt hervorheben will – kann nur Antwort auf einen Ruf sein, nicht etwas „Gemachtes“. Zwar spricht der Text von einem „Machen“, aber das Selbstgespräch „lasset uns einen Menschen machen, in unserem Bild, so wie unsere Ähnlichkeit“ kann nur ein „machen“ besonderer Art meinen: nicht ein vorgesetztes Produkt, eine bloße Anordnung, so wie bisher die Dinge geschaffen und anbefohlen wurden.

Teilnahme am göttlichen Leben, so dass eine Ähnlichkeit in bewusster Übereinstimmung erfolgt, kann nur Antwort auf eine Initiative sein, die Einblick und Einstimmung eröffnet. Freiheit ist nicht gemacht, sondern gerufen (J. Splett). Aus freiem Entschluss entbindet nach Jak 1,18 der Vater durch den Logos der Wahrheit jeden Menschen jeweils neu als eine Erstlingsfrucht einer neuen Welt: „seiner (folgenden) Geschöpfe“. Es sind und bleiben die Geschöpfe Gottes, aber nun hervorgehend aus dem mitwirkenden Menschen als einer Erstlingsfrucht.

Bossuet sagt in seinen Predigten auf die Feste der Allerseligsten Jungfrau Maria: „Darum ist er (der Mensch) in die Mitte der Welt gestellt, ein tätiges Abbild der Welt, eine kleine Welt in der großen, oder vielmehr, wie der heilige Gregor von Nazianz sagt, ,eine große Welt in der kleinen‘, weil er, wenn auch dem Leibe nach in der Welt eingeschlossen, doch einen Geist und ein Herz hat, das größer ist als die Welt; damit er, das ganze Weltall betrachtend und in sich vereinigend, es opfere, weihe und heilige dem lebendigen Gott.“ Es liegt an der Gottesbeziehung des Menschen, dass er die gesamte Schöpfung transzendieren kann. Nach Jakobus gelingt dies nur, wenn wir den uns eingepflanzten Logos der Wahrheit entsprechend annehmen: in sanftmütig hörender Bereitschaft, der zugesprochenen Einladung als einem sich eröffnenden Weg zu folgen, sich ergreifen zu lassen und somit auch selbst mit-einzustimmen und mit-einzugreifen (1,21–25).

Nein

In ganz anderem Stil, in ausmalender Erzählung, beschreibt Gen 2–3 zunächst dieselbe Beziehung der Gotteskindschaft: Gott, der Herr, haucht „Adam“, dem aus der Erde gebildeten Erdling, seinen eigenen Atem in die Nase (2,7). Er gibt ihm eine ihm entsprechende Gehilfin, um diesen göttlichen Lebenshauch auch untereinander zu teilen (2,18: auch hier ist das „Ich will machen“ ein besonderer göttlicher Entschluss). Gott wandelt gewöhnlich im Geisthauch des Tages im Garten, der Adam anvertraut ist (3,8). Aber an einem bestimmten Tag war anderes: Adam und Eva verstecken sich vor Gott, der Erdling hatte Angst vor Ihm, da er das Kleid der Gnade, der ursprünglichen Unschuld, verloren hatte (3,8.10). Die besondere Beziehung der Gotteskindschaft ist offensichtlich verloren gegangen, auch wenn Erinnerung und Sehnsucht, Berufung und Befähigung fortwirken.

Dies kann hier nicht näher ausgeführt werden, der interessierte Leser kann auf Herders theologischen Kommentar zum Alten Testament zu Genesis 1–11 von Georg Fischer aus dem Jahr 2018 verwiesen werden. Trotz mancher Lichtblicke ergibt sich bis zur Generation Noahs das desolate Urteil von Gen 6,5–6, dass das Überhandnehmen der Sünde die Existenzberechtigung der Menschen vor Gott aufgehoben hat. Freilich beginnt mit Noah über Abraham und Mose auch eine göttliche Gegeninitiative, wobei erst in wenigen und jüngeren Texten des Alten Bundes gewagt wird, Gott als Vater anzusprechen (Jes 63,16; 64,7; Sir 23,1.4; Tob 13,4; Weish 14,3). Diese zaghaften Versuche heben das Urteil des hl. Paulus in Röm 3,9 nicht auf, dass alle, Juden und Hellenen, unter der Sünde stehen, das heißt, vom Verlust der Gotteskindschaft geprägt sind.

Das Maß unserer Verantwortung erklärt uns wieder der hl. Jakobus: „Wer vortrefflich zu handeln weiß und es nicht tut, für den ist es Sünde“ (4,17). „Vortrefflich“ bedeutet bei ihm in Übereinstimmung mit dem Logos der Wahrheit, der uns eingepflanzt ist und in eigene Verantwortung entbindet (1,18.21). Das griechische Wort für Sünde („hamartía“) meint ursprünglich den das Ziel verfehlenden Schuss. Wer am Logos vorbeilebt, betrügt sich selbst, ist seelisch gespalten und hat kein Fundament (1,8.22). Wer dagegen meint, den Menschen – sich selbst – entschuldigen zu können als ein mangelhaft programmiertes Instinktwesen, der schiebt die Schuld auf den Schöpfer, beziehungsweise, da er an einen solchen eigentlich nicht mehr glauben kann, auf eine Evolution oder die Gesellschaft. In jedem Fall ist die ursprüngliche Beziehung zum „Vater der Lichter“ (Jak 1,17) als kindlich empfangendes Geschöpf verloren.

Ja und Nein

Erst durch die Menschwerdung des Einziggeborenen, des ewigen Gottessohnes (Joh 1,14.18), kann die Gotteskindschaft wiedergewonnen werden: Denen aber, die Ihn annahmen, gab er Vollmacht, Kinder Gottes zu werden (Joh 1,12). Wiederum ist einsichtig, dass auch diese erneuerte Gotteskindschaft nicht pauschal übertragen werden kann. Ohne das entsprechende Annehmen kann man in die Beziehung zu Gott-Vater nicht eintreten.

Am Ende unserer Bibel, im 21. Kapitel der Geheimen Offenbarung, wo schon von der Vollendung die Rede ist, vom neuen Himmel und der neuen Erde, kommt dies deutlich zum Ausdruck. Da wird die Bundesformel, „sie sollen mir werden zum Volk, und ich, ich werde ihnen zum Gott“ (Ez 11,20); „ich ergehe mich in ihrer Mitte und bin euch Gott, und ihr seid mir Volk“ (Lev 26,12; vgl. Sach 8,8), individualisiert: „Der Siegende wird dies erben, und ich werde ihm Gott sein und er wird mir Sohn sein“ (Offb 21,7).

Wir kennen diese Formel aus 2 Sam 7,14, wo dem König David ein Sohn verheißen ist, der als der eigentliche Messias in einer außerordentlichen Gottesbeziehung stehen wird. Offensichtlich nimmt nun jeder Christ an dieser Sohnes-Beziehung teil, insofern er innerlich so einstimmt, dass er im Werk der Schöpfung und Erlösung mitwirken kann. Aufgrund der erforderten Mitwirkung wird verständlich, dass Offb 21 nochmals hervorhebt – obwohl am Ende nur noch von der Welt der Erlösten die Rede ist –, dass „aber Feiglingen, Ungläubigen, Abscheulichen, Mördern, Unzüchtigen, Hexern, Götzendienern und all den Lügnern ihr Anteil im See ist, der von Feuer und Schwefel brennt. Das ist der zweite Tod“ (21,8).

Auch wenn man darum beten soll, dass alle Menschen „gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen“ (1 Tim 2,4), so kann dies von Gott her doch nie global geregelt, sondern nur individuell angeeignet werden, durch die freie, innere Bereitschaft jedes Einzelnen. Dass am Ende alle Menschen dazu bereit sein werden, ist nach den Aussagen der Heiligen Schrift eher unwahrscheinlich (vgl. Mt 7,13).

Dennoch ist richtig, dass jeder Mensch ein Gotteskind ist, solange er hier auf Erden lebt, in der Zeit der Barmherzigkeit, dem Weg der Umkehr und Erlösung (vgl. 2 Kor 6,2): entweder, weil er tatsächlich schon in diese Beziehung eingetreten ist, die seiner eigentlichen Berufung und seiner Befähigung entspricht – oder im Hinblick auf jederzeitige Möglichkeit, durch die er schon im nächsten Augenblick durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes und einen Akt der vollkommenen Reue das verwirklicht, was ihm in seinem Ursprung anvertraut ist. Da niemand von uns – auch die Kirche nicht – in das forum internum blicken kann, welches allein der Kenntnis Gottes vorbehalten ist, dürfen und sollen wir in jedem Mitmenschen das (mögliche) Gotteskind sehen. Andererseits gibt es natürlich gravierende Verstöße gegen das Leben der Gotteskindschaft, bis hin zu irrationalem und dämonisch inspiriertem Verhalten, die es unwahrscheinlich machen, in den großen Verbrechern der Menschheitsgeschichte tatsächliche Gotteskinder anzunehmen.

Nein, es wäre nicht richtig und eine grobe Verharmlosung, das Leben von uns Menschen so zu entschuldigen, dass am Ende die ganze Welt nur von unschuldigen Gotteskindern bevölkert wäre.

Vom Autor ist gerade in den Stuttgarter Bibelstudien (243) „Das eingepflanzte Wort. Struktur und Grundgedanke des Jakobusbriefes“ erschienen.

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