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„Schrecklichste Verbrechen“

Ein Grundsatzreferat des Papstes über Verbrechen an Kindern im Internet – Die Akademie für das Leben tagte und die Kirche Australiens berichtete im Vatikan über einen Scherbenhaufen. Von Guido Horst
Kardinal George Pell vor Gericht
Foto: dpa | Keine Ruhe um das Thema Missbrauchsvorwürfe in der Kirche: Der australische Kurienkardinal George Pell verlässt am Freitag in Melbourne eskortiert von Polizisten das Gericht.

Rom (DT) Mit einer außergewöhnlich langen Ansprache hat Papst Franziskus den Kongress an der Päpstlichen Universität Gregoriana über die Kindeswürde in der digitalen Welt beendet. Einen Kongress, den Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin mit einem Referat eröffnet hatte. Papst und Staatssekretär: ein Zeichen dafür, wie wichtig der Vatikan den Kindesmissbrauch mittlerweile nimmt. Zum Abschluss des Kongresses hatten sich die Teilnehmer auf eine gemeinsame Erklärung geeinigt, die auch dem Papst vorgelegt wurde. Darin fordern sie Regierungen, Firmen, Institutionen und Glaubensgemeinschaften in der Welt auf, sich stärker des Themas anzunehmen. Der Kampf gegen Missbrauch und für den Schutz von Kindern im Netz müsse intensiver und besser koordiniert werden.

Mit Blick auf die Kirche fragte der Papst bei seiner Abschlussansprache am Freitag in der Sala Clementina des Apostolischen Palasts vor den Tagungsteilnehmern ein wenig selbstkritisch: „Haben wir in diesen Jahren denn nicht zur Genüge gelernt, dass das Verstecken der Realität von sexuellen Missbräuchen ein äußerst schwerwiegender Fehler und Ursache vieler Übel ist?“ Später sollte Franziskus darauf nochmals zurückkommen: „Wie wir alle wissen, wurde der katholischen Kirche in den vergangenen Jahren immer mehr bewusst, in ihrem Innern nicht genügend für den Schutz von Minderjährigen gesorgt zu haben: Es sind sehr schwerwiegende Taten ans Licht gekommen, für die wir die Verantwortung gegenüber Gott, den Opfern und der öffentlichen Meinung eingestehen mussten. Gerade wegen dieser dramatischen Erfahrungen und der durch die Verpflichtung zu Umkehr und Reinigung erworbenen Kompetenzen fühlt sich die Kirche heute besonders stark verpflichtet, sich immer engagierter und mit größerem Weitblick für den Schutz Minderjähriger und ihrer Würde nicht nur in ihrem Inneren, sondern auch in der gesamten Gesellschaft und in der ganzen Welt einzusetzen.“

Im Hauptteil seiner Ansprache nahm der Papst aber die Wirklichkeit im Internet in den Blick, so wie es auch der Kongress in der Gregoriana getan hatte: „Im Netz nehmen sehr schlimme Erscheinungen überhand: die Verbreitung von immer extremeren pornographischen Bildern, da durch Gewöhnung die Reizschwelle immer höher wird; das wachsende Phänomen des ,Sexting‘ unter Jungen und Mädchen in den Sozialen Medien.“ Weiter nannte Franziskus die „Sextortion“, das heißt die sexuelle Verführung Minderjähriger im Netz, was „bis zu den schlimmsten und schrecklichsten Verbrechen der Organisation von Menschenhandel online, der Prostitution und sogar der Bestellung und der Liveübertragung von an Minderjährigen in anderen Teilen der Welt verübten Vergewaltigungen und Gewalttaten über das Internet“ gehe. Das Netz habe aber auch eine dunkle Seite und dunkle Bereiche, das „Darknet“, wo das Böse immer neuere, wirksamere, durchdringendere und feinmaschigere Weisen des Vorgehens und der Verbreitung finde. Dagegen sei die frühere Verbreitung der Pornographie durch gedruckte Medien eine Erscheinung von geringem Ausmaß im Vergleich zu dem, was sich heute im Netz rasant verbreite. „Über all dies haben Sie deutlich gesprochen und die Zusammenhänge eingehend und mit Belegen studiert; wir sind Ihnen dafür dankbar“, sagte der Papst.

Angesichts dessen sei man natürlich entsetzt, verliere aber auch leicht den Überblick, fuhr Franziskus fort. Angesichts der globalen Natur des Internets, das auch Kinder durch immer handlichere und anwenderfreundlichere Geräte erreiche, sehe sich heute niemand auf der Welt und keine nationale Autorität allein in der Lage, das Ausmaß und die Entwicklung dieses Phänomens angemessen zu erfassen und zu kontrollieren. „Auch vom erzieherischen Gesichtspunkt her sind wir verunsichert; denn das rasante Tempo der Entwicklung stellt die älteren Generationen ins Abseits und macht den Dialog zwischen den Generationen und eine ausgewogene Weitergabe von Regeln und der in jahrelanger Erfahrung erworbenen Lebensweisheit schwierig oder nahezu unmöglich.“

Franziskus lud die Anwesenden zu einer „Mobilisierung“ ein, nannte aber drei mögliche Fehleinschätzungen, denen man entgegenwirken müsse. Die erste bestehe darin, den genannten Schaden, der den Minderjährigen zugefügt werde, zu unterschätzen. Denn „die Fortschritte in der Neurobiologie, der Psychologie, der Psychiatrie lassen die tiefgreifende Wirkung von gewalttätigen und sexuellen Bildern auf den formbaren Geist von Kindern erkennen“, Störungen, die das ganze Leben der Kinder von heute schwer belasten würden. Und der Papst wies auch auf das gesamte Ausmaß der Schädigungen hin: „Die Verbreitung immer extremerer Pornographie und anderer missbräuchlicher Nutzungen des Netzes führt nämlich auch bei Erwachsenen nicht nur zu Störungen, Abhängigkeiten und schwerwiegenden Schäden, sondern wirkt sich ebenso auf die Vorstellungen von Liebe und auf die Beziehungen zwischen den Geschlechtern aus. Es wäre eine schlimme Täuschung zu glauben, eine Gesellschaft, in der der abnorme Konsum von Sexualität im Netz unter den Erwachsenen überhand nimmt, könnte fähig sein, Minderjährige wirksam zu schützen.“

Eine zweite Fehleinschätzung besteht für Franziskus darin zu glauben, dass zur Bewältigung der Probleme automatische technische Lösungen, etwa die mit immer ausgeklügelteren Algorithmen erstellten Filter zur Erkennung und Blockierung der Verbreitung missbräuchlicher und schädlicher Bilder ausreichen. Doch es sei ebenso notwendig, dass die Hauptakteure der technischen Entwicklung das große ethische Anliegen innerhalb der Dynamik dieser Entwicklung umfassend und mit Blick auf die verschiedenen möglichen Folgen wahrnehmen. Und dann warnte der Papst vor einer utopischen Sicht des Internets als Reich der grenzenlosen Freiheit. Das Netz habe einen neuen gewaltigen Raum für die freie Äußerung und den Austausch von Ideen und Informationen eröffnet. Das sei gut, wenn es aber um den Missbrauch und die Verletzung der Würde von Kindern gehe, „handelt es sich nicht um die Ausübung von Freiheit, sondern um Straftaten, gegen die man durchdacht und entschieden vorgehen muss, indem man die Zusammenarbeit von Regierungen und Sicherheitskräften auf globaler Ebene ausweitet, so wie das Netz global geworden ist“.

Mit dem Kongress in der Gregoriana endete am gleichen Tag auch die Vollversammlung der Päpstlichen Akademie für das Leben. Es sei ein „guter Dialog“ gewesen, teilte die Akademie zum Abschluss per Twitter mit. Es gehe darum, die lebensfreundlichen Positionen der katholischen Kirche besser zu vermitteln. Am zweiten Tag der Versammlung sprach man etwa darüber, wie skeptisch Menschen in vielen Ländern gegenüber Gesundheitsbehörden sind. Der Kirche hingegen vertraue man. Auf dem Gebiet der Palliativmedizin und -pflege zum Beispiel gebe es keine Organisation, die weltweit so präsent sei wie die katholische Kirche. Das Thema der Tagung lautete „Das Leben begleiten. Herausforderungen im technologischen Zeitalter“. Auch neue Gentechniken wie die Genschere „CRISPR-Cas9“ kamen zur Sprache sowie die damit verbundenen Möglichkeiten, das Leben zu einem Produkt zu machen, das nach Qualitätsmerkmalen bestellt wird.

Dass der Vatikan zum Schutz des Lebens und auch zum Thema Kindesmissbrauch nicht nur Zukunftsweisendes zu sagen hat, sondern nach wie vor auch die Vergangenheit aufzuarbeiten hat, machte parallel zum Gregoriana-Kongress über die Kinderwürde ein anderer „Programmpunkt“ allerdings hinter den Kulissen deutlich: Die Spitze der australischen Bischofskonferenz kam mit Staatssekretär Parolin und leitenden Mitarbeitern des Staatssekretariats sowie der Glaubenskongregation und der Bischofskongregation zusammen, um über Inhalt und Folgen der staatlichen „Royal Commission into Institutional Responses to Child Sexual Abuse“ zu beraten. Deren Bericht hatte erschütternde Details über sexuellen Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen zusammengetragen und auch vor Monaten über Videoschaltung den australischen Kurienkardinal George Pell befragt. Jetzt ist Pell in Australien und steht kurz vor einem Prozess. Der Kardinal ist zum Zielpunkt aller antikirchlichen Ressentiments in Australien geworden, die nicht zuletzt die Untersuchungen der „Royal Commission“ auf das Äußerste verstärkt hatten. Einer Mitteilung des Vatikans zufolge ging es jetzt bei dem Spitzengespräch der australischen Bischofskonferenz und der römischen Kurie nicht nur über die Missbrauchsvorwürfe, sondern auch um das Verhältnis von katholischer Kirche und australischer Gesellschaft insgesamt.

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25.04.2024, 11 Uhr
Regina Einig