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Kreuzverhör

In Lyon sitzt Kardinal Barbarin wegen Vertuschung von Missbrauch auf der Anklagebank. Späte Gerechtigkeit oder nur ein Schauprozess? Von Maximilian Lutz
Kardinal Philippe Barbarin auf der Anklagebank
Foto: Laurent Cipriani (AP)

Mittwoch, dritter Prozesstag, kurz nach 18 Uhr. Das erste Abschluss-Plädoyer der Verteidigung dauert bereits 45 Minuten, als das Handy des Kardinals klappernd zu Boden fällt. Die drei Männer in der ersten Reihe der Angeklagten bücken sich, doch scheinen sie das Gerät nicht zu finden. Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit nach fast zehn Stunden Verhandlung, am dritten Tag in Folge. Vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass sich die Anspannung des Philippe Barbarin, Kardinal und Erzbischof von Lyon, allmählich etwas gelöst hat. Nur eine gute Stunde zuvor erklärte die Staatsanwältin, sie sehe keinen Anlass, ihn zu verurteilen.

Die Vorwürfe gegen Kardinal Philippe Barbarin

Nicht-Anzeige sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch einen Priester und unterlassene Hilfeleistung. Mit diesen Vorwürfen sieht sich Barbarin konfrontiert. Zusammen mit fünf weiteren Geistlichen und Laien, darunter zwei ehemalige Weihbischöfe des Bistums Lyon. So kommt es, dass sich Barbarin in diesen neblig-trüben Januartagen vor der 17. Kammer des Lyoner Strafgerichts verantworten muss. Ein Kardinal auf der Anklagebank: Das Medieninteresse ist gewaltig. Doch es braucht solch einen Skandal, um die Kirche wieder auf die Titelseiten sämtlicher Zeitungen zu befördern. Und das Gesicht des Kardinals auf die Fernsehbildschirme.

Der Prozessauftakt

Prozessauftakt am Montag: Rudel von Journalisten scharen sich um den Erzbischof. Am Morgen, bei seiner Ankunft vor dem schmucklosen grauen Gerichtsgebäude. Und auch im fensterlosen, holzverkleideten Gerichtssaal. So groß ist der Trubel, dass der gläserne Schirm einer Tischlampe zu Bruch geht, umgestoßen von der Kamera eines Fernsehjournalisten. Barbarin scheint dies alles nicht zu beeindrucken. Zwei Anwälte hat er bei sich. Er sitzt auf seinem Platz ganz rechts in Reihe Eins, macht sich manchmal Notizen, beugt sich manchmal nach vorn, die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Gut möglich, dass er im Gebet um Beistand bittet.

Dies ist das eine Gesicht des Kardinals. Ruhig, aufmerksam, in sich gekehrt. Als er in den Zeugenstand gerufen wird, zeigt er ein anderes. Beinahe theatralisch gestikulierend steht er am Rednerpult, in dunkelgrauem Pullover, das schwarze Jackett hat er an seinem Platz gelassen. Das verbliebene Haar spärlich, doch noch immer tiefschwarz. Klein ist er, seine Stimme aber tief und volltönend, als er alle Anschuldigungen entschieden zurückweist.

Über drei Stunden wird er befragt, über drei Stunden steht er im Zentrum des Saals, fünf Meter vor dem Richtertrio, die Kläger zu seiner Linken, die Mitangeklagten zu seiner Rechten. Agil und energisch tritt er auf. Zuweilen erinnert er an einen trotzigen Jugendlichen. Seine 68 Jahre, die turbulenten vergangenen Monate, all das merkt man ihm in dieser Situation nicht an.

Barbarin weiß, dass er sich in der Vergangenheit oft unglücklich ausgedrückt hat. Das räumt er auch ein. Die Taten des Priesters Bernard Preynat, der sich an mehr als 70 Minderjährigen in Pfadfinder-Camps vergangen haben soll, seien „Gott sei Dank“ verjährt, sagte er einmal im französischen Wallfahrtsort Lourdes. Doch jetzt will er klarstellen: „Was ich heute sage, kommt aus der tiefsten Tiefe meines Herzens und meines Glaubens.“ Er habe „niemals, niemals, niemals“ pädophile Handlungen vertuscht. Und um ehrlich zu sein: „Ich weiß nicht, weswegen ich schuldig sein soll.“ Das ist auch der Standpunkt der anderen Angeklagten. Man habe nichts Konkretes von den Vergehen Preynats gewusst, ehe diese 2015 publik wurden. Allenfalls Gerüchte. An eine Anzeige bei den Behörden habe man nicht gedacht.

Die Ansicht der neun Kläger

Die neun Kläger sehen das freilich anders. Der Erzbischof und die fünf Mitangeklagten seien schon viel früher im Bilde gewesen, als sie behaupten. Eine Mauer des Schweigens, ein Netz der Vertuschung, hätten sie erschaffen. Die Kläger, allesamt Opfer des Paters Preynat, haben sich in der Vereinigung „La Parole Libérée“ zusammengeschlossen. Mit einer beispiellosen Kampagne in Internet und sozialen Netzen sorgen sie dafür, dass die Affäre Preynat und das mutmaßliche Schweigen der Kirche einer breiten Öffentlichkeit bekannt wird. 2015 wurde Preynat suspendiert. Nach dem französischen Strafrecht kann er jedoch nicht verurteilt werden, da seine Vergehen in die 1970er und 80er Jahre zurückreichen. Sie sind somit verjährt.

Die Aussagen der Opfer

Die Strategie der Kläger ist von Anfang an klar. Sie versuchen, das Gericht auf emotionaler Ebene zu überzeugen. Die Anwälte machen in ihren Plädoyers immer wieder das Leid der Opfer zum Thema. Deren Traumata. Psychische Probleme. Gestörte Persönlichkeitsentwicklungen. Ihr Leben hätte anders verlaufen können, wenn der Missbrauch früher enthüllt und bestraft worden wäre.

Mehrere Opfer können die Tränen nicht zurückhalten, während sie aussagen. Detailliert schildern manche, was ihnen angetan wurde. Selten war es im Saal so still. Da ist zum Beispiel Alexandre Hezez, 42 Jahre. Er war es, der im Juni 2015 als erster Anzeige gegen Preynat erstattete. Als er aussagt, ist er sichtlich bewegt. Er redet hastig, seine Stimme überschlägt sich, er gestikuliert, bleibt mit der rechten Hand immer wieder am Mikrofon hängen. Dann knistert es im Saal, ehe wieder gebannte Stille einkehrt.

Die brennende Frage: Kann diese Strategie das Gericht überzeugen? Den Richtern geht es schließlich meist nicht um Emotionen, sondern um Fakten. Und so beharren sie in ihren Fragen an die Opfer darauf, dass diese den persönlichen Schaden nachweisen, der ihnen durch die angebliche Nicht-Anzeige entstanden sei. Genau damit hat Francois Devaux merklich Probleme: Als der hünenhafte Vorsitzende der „Parole Libérée“ am zweiten Prozesstag in den Zeugenstand tritt – kahler Schädel, Vollbart, in Turnschuhen und grauem Wollpullover – sagt er, dass es ihm in diesem Prozess eigentlich überhaupt nicht um sich selbst gehe. „Mein Leid ist etwas Intimes, Persönliches. Das interessiert mich nicht. Mir geht es um etwas Grundsätzliches. Dass kein Kind mehr das Gleiche erleidet wie ich.“

Die Offensiver der Anwälte von Barbarin

Devaux ist um Lässigkeit bemüht, steht breitbeinig am Rednerpult, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben. Barbarin wirft er vor, die Dringlichkeit des Missbrauchs- problems nicht erkannt zu haben. Ein seltener Schritt in die Offensive. Dann wird er wieder in die Enge getrieben. Einer von Barbarins Anwälten konfrontiert Devaux mit einem Zeitungsinterview, in dem er es als „Sieg“ bezeichnete, den Kardinal überhaupt auf die Anklagebank befördert zu haben. Dabei behaupte er doch, es gehe ihm eigentlich um die Sache. Und auch Barbarin scheint zu merken, dass hier der Anführer wankt. Bislang hat er geschwiegen, nun hebt der Kardinal wie der Klassenprimus in Reihe eins winkend die Hand. Die Richterin erteilt ihm das Wort. Barbarin springt auf, breitet die Arme aus und erklärt, dass doch er es gewesen sei, der das Missbrauchsopfer Hezez erst zur Anzeige ermutigt habe.

Zwei völlig konträre Ansichten der Sachlage stehen sich in den Tagen des Prozesses gegenüber. Immer wieder kommt es zu Wortgefechten zwischen den Anwälten von Klägern und Angeklagten. Vorwürfe werden durch den Gerichtssaal gerufen, die Strategie der Gegenseite kritisiert. Die Verteidigung spricht von einem Schauprozess. Mehr als einmal mahnt die Vorsitzende Richterin beide Parteien zur Besonnenheit. Einmal unterbricht sie die Verhandlung, bis sich die Gemüter beruhigen. Ein anderes Mal müssen die Telefone zweier Zuschauer konfisziert werden. Sie hatten die Verhandlung unerlaubt mitgeschnitten. Und in jeder Unterbrechung stehen die Fernsehteams vor den Toren des Gerichtssaals bereit, um den Hauptakteuren Statements zu entlocken.

Jeder einzelne Prozesstag erstreckt sich bis spät in den Abend. Die Anhörungen und die Plädoyers der Anwälte dauern lange. 90 Minuten. Zwei Stunden. Sogar ein zusätzlicher Verhandlungstag muss angesetzt werden. Welchen Ausgang wird dieser Mammut-Prozess nehmen? Man wird es erst in einigen Wochen wissen. Am 7. März will das Gericht sein Urteil verkünden.

Versöhnliche Worte des amtierenden Lyoner Weihbischofs Emmanuel Gobilliard

Versöhnliche Worte äußerte der amtierende Lyoner Weihbischof Emmanuel Gobilliard, der selbst nicht am Prozess beteiligt war. Er bedankte sich bei Francois Devaux dafür, dass er die Kirche „durchgeschüttelt“ habe. Auf Seiten der Kirche räumte er Fehler und Schweigen ein. „Wir müssen uns ändern, es gibt Dinge, die sich in der Kirche und der Gesellschaft ändern müssen, damit so etwas nie wieder vorkommt“, so Gobilliard. Devaux wiederum lobte den Weihbischof für seine ehrlichen Worte. Er hoffe, dass man am Anfang von etwas stehe, das der Kirche ihre moralische Rolle zurückgebe. Diese sei in den letzten Jahren geschwächt worden.

Nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft dürfen Kardinal Barbarin und seine Mitangeklagten auf einen Freispruch hoffen. Manche Vergehen seien verjährt, bei anderen kein Straftatbestand zu erkennen, so die Staatsanwältin. Der Name Barbarin wird jedoch weltweit mit Pädophilie in Verbindung gebracht. Das beklagt zumindest dessen Anwalt.

Dass Barbarin aber weiterhin Anhänger hat, zeigt eine Szene im Gerichtssaal: Der Kardinal ist ins Gespräch vertieft, als eine Mitarbeiterin des Gerichts um ein gemeinsames Foto bittet. Bereitwillig posiert Barbarin zum Selfie. Die Frau drückt den Auslöser, und die Kamera fängt das kurze, spitzbübische Lächeln des Kardinals ein. Das Lächeln eines Siegers?

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Erzbischöfe Missbrauchsaffären Philippe Barbarin

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