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Gretchenfrage für Europa

In der Internationalen Hochschule Liebenzell der evangelischen „Liebenzeller Mission“ stand das diesjährige IHL-Symposium unter dem Thema „Europa, wie hältst du’s mit der Religion? Zum Verhältnis von Religion und Gesellschaft“. Von Claudia Kock
Muslimische Frau mit Kopftuch
Foto: Wolfgang Kumm (dpa) | Eine muslimische Frau mit Kopftuch steht am 27.09.2016 vor dem Brandenburger Tor in Berlin. (zu dpa "Menschen mit «sichtbarem Migrationshintergrund» beklagen Diskriminierung" vom 16.01.2018) Foto: Wolfgang Kumm/dpa ...

Europa ist ein vom Christentum geprägter Kontinent. Nur drei europäische Länder – Albanien, der Kosovo und Bosnien – sind mehrheitlich vom Islam bestimmt. In den letzten Jahrzehnten kommt es durch Migrationsbewegungen immer mehr zu einer religiösen Durchmischung der Bevölkerung – in Frankreich und England schon seit längerer Zeit, in Deutschland seit den 1960er Jahren, als die ersten Muslime, vorwiegend aus der Türkei, als Gastarbeiter kamen. Seitdem ist der Islam, so Heinrich Kreft, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Luxemburg auf dem diesjährigen IHL-Symposium in Bad Liebenzell, „ein Teil der deutschen Realität und damit fester Bestandteil der deutschen Gesellschaft“. Spätestens seit den 70er Jahren sei Deutschland zur Einwanderernation geworden. Mittlerweile leben, so Kreft, etwa 4,5 bis 4,7 Millionen Muslime in Deutschland, von denen etwa 1,5 bis 2 Millionen die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, viele seien in zweiter oder dritter Generation in Deutschland. Insgesamt 5,4 bis 5,7 Prozent der Deutschen seien demnach Muslime. Bei den Herkunftsländern stehe die Türkei an erster Stelle, gefolgt von Syrien.

Die Moscheegemeinden, erläuterte Kreft, sind in verschiedenen Dachverbänden organisiert. Die meisten, etwa 900, gehörten der Ditib an, dem Arm des türkischen Amtes für Religionsangelegenheiten, gefolgt vom Islamrat mit etwa 400 Gemeinden. Dieser werde als problematisch wahrgenommen, da die größte ihm angehörige Gemeinschaft, Milli Görüs, wegen islamistischer Tendenzen in einigen Bundesländern vom Verfassungsschutz beobachtet werde. Weitere Dachverbände sind das Kulturzentrum, der Zentralrat der Muslime sowie weitere vor allem ethnische Verbände.

Der deutsche Staat habe sich, so Kreft, in den letzten Jahren sehr schwer getan, ein Modell zu entwickeln, das die Vorgaben des Grundgesetzes mit den religiösen Rechten und Forderungen der in Deutschland lebenden Muslime und den Erwartungen der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft in Einklang bringt. Es gebe seines Erachtens – Kreft betonte an dieser Stelle, dass er dies als Privatperson und nicht als Vertreter der Bundesregierung sage – bisher „keine kohärente Islampolitik“.

Der deutsche Staat könne, so Kreft, Religionsgemeinschaften den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verleihen. Dazu müssten sie bestimmte Kriterien erfüllen, wie eine durchgängige Existenz von mindestens 30 Jahren, klare Organisationsstrukturen, transparente Entscheidungsverfahren und eine Instanz, die über Lehre und Ordnung entscheidet. Bis heute erfülle keiner der bestehenden muslimischen Verbände und Gemeinschaften alle Kriterien. Außerdem verträten alle Verbände zusammen gerade einmal 20 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime. Ein weiteres Problem sei der massive Einfluss aus dem Ausland – etwa die zentrale Vorgabe der Freitagspredigt in den Ditib-Moscheen oder Finanzierung von Moscheen mit Geldern aus Saudi-Arabien oder Kuwait – sowie der Vorwurf, nicht genug gegen Radikalisierung zu tun. Außerdem handle es sich bei vielen Verbänden mehr um Lobbyorganisationen als um Religionsgemeinschaften. So habe der Staat, anders als bei der EKD oder der katholischen Kirche, für die Muslime keinen offiziellen Gesprächspartner. Über die vor einigen Jahren ins Leben gerufene Islamkonferenz werde der Dialog zwischen Staat und Muslimen derzeit fortgesetzt, der seit Beginn der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 eine neue Dynamik bekommen habe. Durch den Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin sei auch die Dschihadisten-Szene stärker in das Blickfeld gerückt. Mittlerweile seien auch die Moscheegemeinden hier bereit zu kooperieren, so Kreft. Ursprünglich hat man das von sich gewiesen mit dem Argument: „Die Terroristen haben nichts mit dem Islam zu tun.“ Heute werde es jedoch auch in den Moscheegemeinden akzeptiert, dass es selbstverständlich einen Bezug gibt und die Moscheegemeinden sich schon aus eigenem Interesse hier engagieren müssen, weil sie sonst insgesamt mit Terrorismus und Dschihadismus in Verbindung gebracht werden.

Krefts Ausführungen sollten durch einen Vortrag des Islamwissenschaftlers und Abdel-Hakim Ourghi ergänzt werden, der sich als Vertreter eines liberalen Islam für die Überwindung einige der Probleme einsetzt, die eine Anerkennung der Muslime als Körperschaft öffentlichen Rechts in Deutschland bisher verhindert haben – etwa durch eine Stopp der Importe von Imamen aus dem Ausland und Transparenz in der Finanzierung von Moscheegemeinden und Verbänden. Leider fand dieser Vortrag nicht statt, da Ourghi seine Teilnahme am Symposium kurzfristig absagte. So kam zu diesem sehr aktuellen Thema leider keine Diskussion zustande.

Ganz anders gelagert war der Beitrag von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, die sich religionsphilosophisch mit dem Thema „Woher die Angst vor Gott (in Europa)“ auseinandersetzte und die Anwesenden faszinierte mit einem Vortrag, der klares philosophisches Denken mit poetischer Tiefe verband. So sprach Gerl-Falkovitz vom „Tremendus-Fascinans“ der alten Götter: Religion und Angst seien verschwistert. Religion sei in ihrem Ursprung eine Frage von Zwang, von Macht – aber auch die Frage danach, wie man sich diese Macht dienlich machen, sie beschwichtigen kann. Religion habe etwas mit Bändigen zu tun, mit dem „Herauskitzeln der guten Seite“ des Gottes. Die Angst komme aus dem tiefsitzenden Zweifel an der Gutheit des Gottes, an seiner Verlässlichkeit: ein „anthropologischer Boden heilloser Angst“. Wenngleich das Alte Testament noch Spuren dieser Gottesfurcht trage, geschehe mit dem Judentum und dem Christentum ein „theologischer Quantensprung“: Gott kommt aus dem Dämonischen, dem Zwielicht heraus. Der christliche Gott ist nicht Licht und Finsternis, sondern Licht. Er sei so frei, dass er nur Freie um sich dulde. Die Religion mache frei, so Gerl-Falkovitz, sich auch gegen die herrschende Meinung zu stellen. Es sei möglich, dass Zeiten kämen, in denen dieses Bekenntnis auch bei uns wieder etwas koste.

In einer säkularisierten Welt, so Michael Biehl vom Evangelischen Missionswerk, liege die typische Form, sich mit Religion auseinanderzusetzen, im individuellen Lebensentwurf. Er machte dies deutlich am Beispiel des jungen katholischen Priesters Georg Taubitz, der im vergangenen Jahr für die Erzdiözese Hamburg geweiht wurde. Von einem Journalisten befragt, wie er sich einer Gemeinschaft anschließen könne, die Ketzer und Hexen verfolgt und Religionskriege geführt habe und die eine altbackene, unterdrückerische Moral predige, antwortete Taubitz mit einem Hinweis auf seine persönliche Beziehung zu Christus, die seinem Leben Sinn und Authentizität verleihe, in einem Lebensentwurf, der es ihm auch ermögliche, für die Institution einzustehen. „Das bedeutet für uns als Kirchen in einer säkularisierten Welt“, so Biehl, „auch immer eine Herausforderung: Unsere Überzeugung umzusetzen und sie den Menschen nahezubringen“.

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