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Da ist ein Armer, er rief und der Herr erhörte ihn

Botschaft von Papst Franziskus zum Zweiten Welttag der Armen am 18. November 2018.
Papst Franziskus wendet sich an die Gläubigen
Foto: Alessandra Tarantino (AP) | Papst Franziskus zum Zweiten Welttag der Armen am 18. November 2018.

Da ist ein Armer, er rief und der Herr erhörte ihn

1. «Da ist ein Armer; er rief und der Herr erhörte ihn» (Ps 34,7). Die Worte des Psalmisten werden in dem Augenblick auch zu den unseren, in dem wir aufgerufen sind, den verschiedenen Situationen des Leidens und der Ausgrenzung zu begegnen, in denen so viele Brüder und Schwestern leben, die wir gewohnt sind, mit dem allgemeinen Begriff „arm“ zu bezeichnen. Dem Verfasser jener Worte sind diese Lebensbedingungen nicht fremd, im Gegenteil. Er erfährt diese Armut unmittelbar, doch er verwandelt sie in ein Lied des Lobes und des Dankes an den Herrn. Dieser Psalm ermöglicht es heute auch uns, die wir von so vielen Formen der Armut umgeben sind, zu verstehen, wer die wahrhaft Armen sind, auf die unseren Blick zu richten, wir aufgerufen sind, um ihren Schrei zu hören und ihre Nöte und Bedürfnisse zu erkennen.

Es wird uns vor allem gesagt, dass der Herr die Armen, die zu Ihm rufen, hört und dass Er gut ist zu jenen, die bei Ihm Zuflucht suchen mit einem von Trauer, Einsamkeit und Ausgrenzung zerbrochenen Herzen. Er erhört jene, die in ihrer Würde mit Füßen getreten werden und dennoch die Kraft haben, ihren Blick nach oben zu erheben, um Licht und Zuspruch zu empfangen. Er erhört diejenigen, die im Namen einer falschen Gerechtigkeit verfolgt werden, unterdrückt durch politische Maßnahmen, die dieser Bezeichnung nicht würdig sind, und verängstigt durch die Gewalt; die dennoch wissen, dass sie in Gott ihren Erlöser haben. Was aus diesem Gebet hervorgeht, ist vor allem das Gefühl des völligen Sich-Verlassens und des Vertrauens auf einen Vater, der erhört und annimmt. Auf der Wellenlänge dieser Worte können wir tiefer verstehen, was Jesus mit der Seligpreisung verkündet hat: « Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich» (Mt 5,3)

Aufgrund dieser einzigartigen und in vieler Hinsicht unverdienten und fast nicht auszudrückenden Erfahrung spürt man jedenfalls den Wunsch, sie anderen mitzuteilen, zuallererst jenen, die – wie der Psalmist – arm, zurückgestoßen und ausgegrenzt sind. Tatsächlich darf sich niemand von der Liebe des Vaters ausgeschlossen fühlen, besonders in einer Welt, die oft den Reichtum zum Hauptzweck erhebt und in sich selbst verschlossen macht.

2. Der Psalm charakterisiert die Haltung des Armen und seine Beziehung zu Gott mit drei Zeitwörtern. Zuallererst: „schreien“. Die Situation der Armut erschöpft sich nicht in einem Wort, sondern wird zu einem Schrei, der die Himmel durchdringt und Gott erreicht. Was drückt der Schrei des Armen aus, wenn nicht sein Leiden und seine Einsamkeit, seine Enttäuschung und Hoffnung? Wir können uns fragen: Wie kommt es, dass dieser Schrei, der zum Angesicht Gottes aufsteigt, nicht zu unseren Ohren zu gelangen vermag und uns gleichgültig und untätig lässt? An einem Welttag wie diesem sind wir zu einer ernsthaften Gewissenserforschung aufgerufen, um uns darüber klar zu werden, ob wir wirklich fähig sind, auf die Armen zu hören.

Was wir brauchen, um ihre Stimme zu erkennen, das ist die Stille des Hinhörens. Wenn wir selbst zu viel reden, werden wir es nicht schaffen, sie anzuhören. Ich befürchte, dass viele und sogar verdienstvolle und notwendige Initiativen häufig mehr darauf ausgerichtet sind, uns selbst zu gefallen, als darauf, den Schrei des Armen wirklich wahrzunehmen. Ist das der Fall, so ist zu dem Zeitpunkt, da die Armen ihren Schrei hören lassen, die Reaktion nicht stimmig, sie ist nicht geeignet, mit ihrer Situation in Einklang zu treten. Man ist derart gefangen in einer Kultur, die einen zwingt, sich selbst im Spiegel zu betrachten und sich über die Maßen um sich selbst zu kümmern, dass man überzeugt ist, dass eine Geste der Selbstlosigkeit ausreichen könne, um zufrieden zu sein, ohne sich direkt verpflichten zu lassen.

3. Ein zweites Zeitwort ist „antworten“. Der Herr, so sagt der Psalmist, hört nicht nur auf den Schrei des Armen, sondern er antwortet. Seine Antwort ist – wie in der gesamten Heilsgeschichte bezeugt wird – eine Anteilnahme voller Liebe an der Situation des Armen. So war es, als Abraham vor Gott seinen Wunsch nach Nachkommenschaft zum Ausdruck brachte, obwohl er und seine Frau bereits alt waren und keine Kinder hatten (vgl. Gen 15,1-6). So geschah es, als Mose durch das Feuer eines Dornbusches hindurch, der brannte und doch nicht verbrannte, die Offenbarung des göttlichen Namens und die Sendung empfing, das Volk aus Ägypten herauszuführen (vgl. Ex 3,1-15). Und diese Antwort hat sich auf dem gesamten Weg des Volkes durch die Wüste bestätigt: als es die Qualen des Hungers und des Durstes verspürte (vgl. Ex 16,1-16; 17,1-7), und als es in das schlimmste Elend fiel, nämlich in die Untreue gegenüber dem Bund und in den Götzendienst (vgl. Ex 32,1-14).

Die Antwort Gottes für den Armen ist immer ein rettendes Eingreifen, um die Wunden der Seele und des Leibes zu heilen, um Gerechtigkeit wiederherzustellen und um zu helfen, das Leben in Würde wieder aufzunehmen. Die Antwort Gottes ist auch ein Appell dazu, dass jeder, der an Ihn glaubt, innerhalb der Grenzen des menschlich Möglichen ebenso handeln möge. Der Welttag der Armen will eine kleine Antwort sein, die sich von der Kirche, die über die ganze Welt verstreut ist, an die Armen jeder Art und jeden Landes richtet, damit sie nicht denken, ihr Schrei sei auf taube Ohren gestoßen. Wahrscheinlich ist er wie ein Tropfen Wasser in der Wüste der Armut; und dennoch kann er ein Zeichen des Mitfühlens mit jenen in Not sein, damit sie die aktive Anwesenheit eines Bruders und einer Schwester spüren. Was die Armen brauchen, ist nicht ein Akt der Delegierung, sondern das persönliche Engagement jener, die ihren Schrei hören. Die Fürsorge der Gläubigen kann sich nicht auf eine – wenn auch in einem ersten Moment notwendige und vorsorgliche – Form der Assistenz beschränken, sondern erfordert jene «liebevolle Zuwendung» (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 199), die den anderen als Person ehrt und sein Wohl sucht.

4. Ein drittes Zeitwort ist „befreien“. Der Arme der Bibel lebt in der Gewissheit, dass Gott zu seinen Gunsten eingreift, um ihm seine Würde wiederzugeben. Die Armut wird nicht gesucht, sondern vom Egoismus, vom Stolz, von der Gier und von der Ungerechtigkeit erzeugt. Von Übeln, so alt wie die Menschheit, aber trotzdem immer Sünden, die so viele Unschuldige betreffen und die zu dramatischen sozialen Konsequenzen führen. Die Handlung, mit welcher der Herr befreit, ist ein Akt der Erlösung für all jene, die Ihm ihre eigene Trauer und Angst gezeigt haben. Die Gefangenschaft der Armut wird von der Macht des Eingreifen Gottes aufgebrochen. Zahlreiche Psalmen erzählen und feiern diese Heilsgeschichte, die im persönlichen Leben des Armen Bestätigung findet. «Denn er hat nicht verachtet, nicht verabscheut das Elend des Armen. Er verbirgt sein Gesicht nicht vor ihm; er hat auf sein Schreien gehört» (Ps 22,25). Das Angesicht Gottes schauen zu dürfen, ist ein Zeichen seiner Freundschaft, seiner Nähe, seines Heils. «Du hast mein Elend angesehen, du bist mit meiner Not vertraut. […] du hast meinen Füßen freien Raum geschenkt» (Ps 31,8-9). Dem Armen einen „freien Raum“ anzubieten, ist gleichbedeutend damit, ihn aus der „Schlinge des Jägers” zu befreien (vgl. Ps 91,3), ihn aus der Falle herauszuholen, die über seinen Weg ausgespannt ist, damit er zügig voranschreiten und die Welt mit klaren Augen sehen kann. Das Heil Gottes nimmt die Form einer dem Armen entgegengestreckten Hand an, die Aufnahme anbietet, behütet und die Freundschaft erfahren lässt, die er braucht. Von dieser konkreten und spürbaren Nähe aus beginnt ein echter Weg der Befreiung: «Jeder Christ und jede Gemeinschaft ist berufen, Werkzeug Gottes für die Befreiung und die Förderung der Armen zu sein, so dass diese sich vollkommen in die Gesellschaft einfügen können; das setzt voraus, dass wir gefügig und aufmerksam sind, um den Schrei des Armen zu hören und ihm zu Hilfe zu kommen» (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 187).

5. Es bewegt mich, zu wissen, dass so viele arme Menschen sich mit Bartimäus identifizieren, von dem der Evangelist Markus spricht (vgl. Mk 10,46-52). Der blinde Bartimäus «saß an der Straße» und bettelte (V. 46), und da er gehört hatte, dass Jesus vorbeiging, «rief er laut» und rief den «Sohn Davids» an, er möge mit ihm Erbarmen haben (Vgl. V. 47). «Viele wurden ärgerlich und befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter» (V. 48). Der Sohn Gottes hörte auf seinen Schrei: «„Was willst du, dass ich dir tue?“ Der Blinde antwortete: „Rabbuni, ich möchte wieder sehen können!“» (V. 51). Dieser Abschnitt des Evangeliums macht sichtbar, was der Psalm als Verheißung verkündete. Bartimäus ist ein Armer, der die Grundfähigkeiten entbehrte, wie das Sehen und das Arbeiten. Wie viele Wege führen auch heute noch zu Formen der mangelnden Absicherung! Der Mangel an grundlegenden Mitteln des Lebensunterhalts, die Ausgrenzung, wenn man nicht mehr in der Fülle der eigenen Arbeitskraft steht, die verschiedenen Formen der sozialen Sklaverei, trotz der von der Menschheit erzielten Fortschritte ... Wie viele Arme sitzen heute – wie Bartimäus – am Straßenrand und suchen einen Sinn für ihre Situation! Wie viele fragen sich, warum sie am Tiefpunkt dieses Abgrunds angelangt sind und wie sie da herauskommen können! Sie warten darauf, dass jemand sich ihnen nähert und sagt: «Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich!» (V. 49).

Leider erweist sich oft, dass die Stimmen, die zu hören sind, Stimmen des Vorwurfs und der Aufforderung sind, zu schweigen und zu ertragen. Es sind dissonante Stimmen, die oft von einer Angst vor den Armen bestimmt sind, die nicht nur als Bedürftige angesehen werden, sondern auch als Träger von Unsicherheit, Instabilität, Störung der alltäglichen Gewohnheiten und daher als Zurückzuweisende und Fernzuhaltende. Man tendiert dazu, eine Distanz zwischen sich und ihnen zu schaffen, und man begreift nicht, dass man sich auf diese Weise vom Herrn Jesus distanziert, der sie nicht zurückweist, sondern sie zu sich ruft und sie tröstet. Wie treffend klingen in diesem Fall die Worte des Propheten über den Lebensstil des Gläubigen nach: «die Fesseln des Unrechts zu lösen, die Stricke des Jochs zu entfernen, die Versklavten freizulassen, jedes Joch zu zerbrechen, an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen, wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden» (vgl. Jes 48,6f). Diese Weise zu handeln ermöglicht, dass die Sünde vergeben wird (vgl. 1 Petr 4,8), dass die Gerechtigkeit ihren Lauf nimmt und dass der Herr, wenn wir es dann sind, die zu Ihm schreien, antwortet und sagt: «Hier bin ich!» (vgl. Jes 58,9)

6. Die Armen sind die ersten, die die Anwesenheit Gottes erkennen und Zeugnis von seiner Nähe in ihrem Leben geben können. Gott bleibt seiner Verheißung treu, und auch im Dunkel der Nacht lässt er es nicht an der Wärme seiner Liebe und seiner Tröstung fehlen. Dennoch ist es, um die erdrückende Situation der Armut zu überwinden, notwendig, dass diese die Anwesenheit von Brüdern und Schwestern wahrnehmen, die sich um sie kümmern und – indem sie die Türe des Herzens und des Lebens öffnen – sie spüren lassen, dass sie Freunde und Familienangehörige sind. Nur auf diese Weise ist es uns möglich, «die heilbringende Kraft ihrer Leben zu erkennen und sie in den Mittelpunkt des Weges der Kirche zu stellen» (Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 198).

An diesem Welttag sind wir eingeladen, die Worte des Psalms konkret werden zu lassen: «Die Armen sollen essen und sich sättigen» (Ps 22,27). Wir wissen, dass im Jerusalemer Tempel nach dem Opferritus das Festmahl stattfand. In vielen Diözesen war dies eine Erfahrung, die im vergangenen Jahr die Begehung des Welttags der Armen bereichert hat. Viele haben die Wärme eines Hauses gefunden, die Freude eines festlichen Essens und die Solidarität all jener, die in einfacher und brüderlicher Weise das Mahl mit ihnen teilen wollten. Ich möchte, dass auch in diesem Jahr und in Zukunft dieser Welttag gefeiert wird im Zeichen der Freude über die wiedergewonnene Fähigkeit, zusammen zu sein. Am Sonntag in Gemeinschaft miteinander zu beten und die Mahlzeit zu teilen. Eine Erfahrung, die uns zurückführt zur frühen christlichen Gemeinschaft, die der Evangelist Lukas in all ihrer Ursprünglichkeit und Einfachheit beschreibt: «Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten. Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. Sie verkauften Hab und Gut und gaben davon allen, jedem so viel, wie er nötig hatte» (Apg 2,42.44-45).

7. Es sind unzählige Initiativen, die die christliche Gemeinschaft jeden Tag unternimmt, um ein Zeichen der Nähe und der Linderung für die vielen Formen der Armut zu geben, die wir vor Augen haben. Oft gelingt es in der Zusammenarbeit mit anderen Akteuren, die zwar nicht vom Glauben, aber von der menschlichen Solidarität bewegt sind, eine Hilfe zu bringen, die wir alleine nicht verwirklichen könnten. Anzuerkennen, dass innerhalb der immensen Welt der Armut auch unser Einsatz begrenzt, schwach und ungenügend ist, führt dazu, den anderen die Hände entgegenzustrecken, damit die gegenseitige Zusammenarbeit das Ziel in wirksamerer Weise erreichen kann. Wir sind bewegt vom Glauben und vom Gebot der Nächstenliebe, doch wissen wir andere Formen der Hilfe und der Solidarität anzuerkennen, die sich teilweise dieselben Ziele setzen; wenn wir nur nicht das vernachlässigen, was uns eigen ist, nämlich alle zu Gott und zur Heiligkeit zu führen. Der Dialog zwischen den verschiedenen Erfahrungen und die Demut, unsere Mitarbeit zu leisten ohne irgendeine Art von Geltungsdrang, ist eine angemessene und völlig evangeliumsgemäße Antwort, die wir verwirklichen können.

Vor den Armen geht es nicht darum, um den Vorrang des Einschreitens zu spielen, vielmehr können wir demütig anerkennen, dass es der Heilige Geist ist, der Gesten hervorruft, die Zeichen der Antwort und der Nähe Gottes sein sollen. Sobald wir eine Weise finden, den Armen nahe zu sein, wissen wir, dass der Primat Ihm gebührt, der unsere Augen und Herzen für die Umkehr geöffnet hat. Nicht Geltungsdrang brauchen die Armen, sondern Liebe, die sich zu verbergen und das getane Gute zu vergessen weiß. Die wahren Protagonisten sind der Herr und die Armen. Wer sich in den Dienst stellt, ist Werkzeug in den Händen Gottes, um seine Gegenwart und sein Heil erkennen zu lassen. Daran erinnert der heilige Paulus, wenn er den Christen von Korinth schreibt, die untereinander um die Gnadengaben wetteiferten und dabei die angesehensten begehrten: «Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich bin nicht auf dich angewiesen. Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht» (1 Kor 12,21). Der Apostel stellt eine wichtige Überlegung an, indem er feststellt, dass die Glieder des Leibes, die am schwächsten scheinen, die wichtigsten sind (vgl. V. 22); und «denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir umso mehr Ehre und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit mehr Anstand, während die anständigen das nicht nötig haben» (VV. 23-24a). Während er eine grundlegende Unterweisung über die Charismen gibt, erzieht Paulus die Gemeinschaft auch zur evangeliumsgemäßen Haltung gegenüber ihren schwächsten und bedürftigsten Gliedern.

Fern seien von den Jüngern Christi Gefühle der Verachtung und des geheuchelten Mitleids ihnen gegenüber; vielmehr sind sie gerufen, ihnen Ehre zu erweisen, ihnen den Vortritt zu lassen, überzeugt, dass sie eine wirkliche Gegenwart Christi in unserer Mitte sind. «Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan» (Mt 25,40).

8. Hier versteht man, wie weit unsere Lebensweise von jener der Welt entfernt ist, die diejenigen rühmt, ihnen hinterherläuft und sie nachahmt, die Macht und Reichtum haben, während sie die Armen ausgrenzt und sie als Abfall und als Schande ansieht. Die Worte des Apostels Paulus sind eine Einladung, der Solidarität mit den schwächsten und weniger begabten Gliedern des Leibes die Vollkommenheit des Evangeliums zu verleihen: «Wenn darumeinGlied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm» (1 Kor 12,26). In gleicher Weise fordert er uns im Brief an die Römer auf: «Freut euch mit den Fröhlichen und weint mit den Weinenden! Seid untereinander eines Sinnes; strebt nicht hoch hinaus, sondern bleibt demütig!Haltet euch nicht selbst für weise!» (12,15-16). Dies ist die Berufung des Jüngers Christi; das Ideal, dem er mit Beständigkeit zustrebt, ist, in uns immer mehr die «Gesinnung Christi» aufzunehmen (vgl. Phil 2,5).

9. Ein Wort der Hoffnung wird zum natürlichen Ausklang, auf den der Glaube hinführt. Häufig sind es gerade die Armen, die unsere Gleichgültigkeit in Frage stellen, welche die Frucht eines zu sehr immanenten und an die Gegenwart gebundenen Lebens ist. Der Schrei des Armen ist auch ein Ruf der Hoffnung, mit dem er die Gewissheit ausdrückt, befreit zu werden. Der Hoffnung, die in der Liebe Gottes gründet, der niemanden im Stich lässt, der sich ihm anvertraut (vgl. Röm 8,31-39). Die heilige Teresa von Ávila schrieb in ihrem Weg der Vollkommenheit: «Die Armut ist ein Gut, das alle Güter der Welt in sich einschließt; sie ist ein großer herrschaftlicher Besitz; ich sage, dass sie für denjenigen bedeutet, alle Güter der Welt neu zu besitzen, der sich nichts aus ihnen macht. » (2,5) In dem Maß, in dem wir fähig sind, das wahre Gut zu unterscheiden, werden wir reich vor Gott und weise vor uns selbst und vor den anderen. Es ist genauso: In dem Maß, in dem man fähig ist, dem Reichtum seinen rechten und wahren Sinn zu geben, wächst man in der Menschlichkeit und wird fähig, zu teilen.

10. Ich lade die Mitbrüder im Bischofsamt, die Priester und besonders die Diakone, denen die Hände aufgelegt wurden für den Dienst an den Armen (vgl. Apg 6,1-7), zusammen mit den Personen des geweihten Lebens und den vielen Laien und Laiinnen, die in den Pfarren, in den Vereinigungen und in den Bewegungen die Antwort der Kirche auf den Ruf der Armen greifbar machen, dazu ein, diesen Welttag als einen bevorzugten Moment der Neuevangelisierung zu leben. Die Armen evangelisieren uns, indem sie uns helfen, jeden Tag die Schönheit des Evangeliums zu entdecken. Lassen wir diese Gelegenheit der Gnade nicht auf taube Ohren stoßen. Wir wollen an diesem Tag spüren, dass wir alle ihnen gegenüber in der Pflicht stehen, damit – indem wir einander die Hände entgegenstrecken – sich die rettende Begegnung verwirklicht, die den Glauben festigt, die Nächstenliebe tatkräftig macht und die sichere Hoffnung befähigt, den Weg weiterzugehen hin auf den Herrn, der kommt.

Aus dem Vatikan, am 13. Juni 2018
Liturgischer Gedenktag des hl. Antonius von Padua

FRANZISKUS

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