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„Boko Haram hat unseren Glauben gereinigt und gestärkt“

Ein Gespräch über die Situation der Christen im Nordosten Nigerias mit Father John Bogna Bakeni. Von Marie-Thérèse Knöbl
Nigeria: Gespräch mit Father John Bogna Bakeni
Foto: KiN | Verteilung von Lebensmitteln an Opfer von Boko Haram im nigerianischen Bistum Maiduguri.

Father Dr. John Bogna Bakeni, Jahrgang 1975, ist Diözesanpriester an der Kathedrale von Maiduguri, der Geburtsstätte und Hochburg der Terrormiliz "Boko Haram". Auch die nomadisch lebenden islamistischen Fulani-Hirten verüben dort seit knapp zehn Jahren zunehmend Anschläge und versuchen ganze Dörfer auszulöschen, wenn deren Bewohner nicht nach streng sunnitischer Auslegung des Islam leben. Unter den Opfern sind Muslime wie Christen, mehr als zwei Millionen Menschen sind innerhalb kürzester Zeit aus den ländlichen Regionen nach Maiduguri – einer Stadt der Größe Münchens – geflohen, wo es mittlerweile 20 Flüchtlingscamps für „displaced persons“ gibt. Father John koordiniert die humanitäre Hilfe vor Ort für alle Notleidenden unabhängig von ihrer religiösen oder ethnischen Zugehörgkeit und ist als Seelsorger im Bistum für rund 7 000 Katholiken zuständig. Er ist ausgewiesener Fachmann für interreligiösen Dialog und praktiziert regelmäßig Konfliktlösungsgespräche und Verhandlungsführungen mit Vertretern muslimischer, christlicher und traditioneller Gruppen.

Father John, Ihre Kathedrale liegt mitten in Maiduguri, der Hochburg von Boko Haram. Was ist Boko Haram und wie hat es die Stadt verändert?

Boko Haram ist eine Bezeichnung, die den islamistischen Terroristen, die nach dem Herbst 2001 begonnen hatten, sich in Nigeria von Norden her auszubreiten, von den Menschen vor Ort gegeben wurde. Der Titel ist ein Konglomerat aus einem Wort der Sprache der überwiegend muslimischen Bevölkerung der Kanuri im Nordosten Nigerias, Hausa, und dem arabischen Adjektiv für „unrein, nicht erlaubt“. Wörtlich übersetzt heißt Boko Haram „Westliche Bildung ist unrein“. Die Gruppe selbst nennt sich jedoch „Sunnitische Vereinigung für Glaubensverbreitung und Islam“. Boko Haram hat viel Unruhe nach Maiduguri gebracht, aber die Menschen lassen sich davon nicht beeindrucken oder für das Böse gewinnen.

Wie können Christen in Maiduguri ihren Glauben leben?

Das können sie nach wie vor wie immer tun, wenn nicht sogar noch besser. Auch der Terrorismus ist ein Geschäft, hat Käufer und Verkäufer und sucht sich für sein Produkt weltweit seine Märkte. Davon sollten sich Christen nicht einschüchtern lassen. Es wird immer Menschen geben, die so ihre Geschäfte machen und von außen ihre Interessen in eine Region tragen, religiöse Gefühle und die Sehnsucht der Menschen nach Gerechtigkeit missbrauchen. Das hat es schon zu Zeiten Jesu gegeben. Sowohl der Islam als auch das Christentum haben übrigens in ihrer DNA gleichermaßen den Drang zu expandieren und zu dominieren, beide haben zum Beispiel das Bestreben die indigene Bevölkerung in der Mitte Nigerias zu missionieren und zum Konvertieren zu bewegen – der Islam vom Norden, die Christen vom Süden her. Das ist kaum zu ändern. Christen sollten deshalb Sanftmut und Vergebung praktizieren, im Gebet fest zusammenstehen und auch für ihre Feinde beten.


Wonach sehnt sich Nigerias Jugend?

Nigerias Jugend sehnt sich vor allem nach Betätigungsfeldern. Sie ist voller Energie und guter Ideen, 55 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre jung und möchten etwas bewegen, arbeiten, Familien gründen, am Leben der Gesellschaft partizipieren. Glücklicherweise hat die Regierung von Nigeria erst vor zwei Wochen ein Gesetz verabschiedet, das die nächste Generation ermutigen soll, sich politisch zu engagieren. Unter dem Titel „Not too Young to Run“ sollen junge Menschen Lust darauf bekommen, für das Amt des Präsidenten, des Gouverneurs, für ein Mandat im Senat oder in der Kommunalverwaltung zu kandidieren. Unsere Demokratie ist noch sehr jung und wird momentan vor allem von alten Männern in zwischen 60 und 80 Jahren gemacht. Die Jüngeren sind aber ganz gierig danach, auch mitzugestalten. Sie sind hochmotiviert.

Welche Hilfe wird momentan in Maiduguri am dringendsten benötigt?

Vor allem brauchen wir das Gebet. Ich habe es bei schweren Angriffen selbst erlebt, wie sich aus dem gemeinsamen Gebet ein wahrer Schutzpanzer um die Menschen bilden kann. Es ist körperlich spürbar. Wir brauchen also vor allem das Gebet und die Solidarität der Mitchristen überall auf der Welt. Aber auch ganz konkrete materielle Hilfe wie Schutzräume, Medikamente, Lebensmittel, Wasser. Und vor allem auch ganz dringend Bildungsmöglichkeiten für die Kinder, Strukturen hierfür, Lehrmittel und den Frieden, damit unterrichtet und gelernt werden kann. Daneben ist mittlerweile auch psychologische Betreuung wichtig geworden, Traumabehandlung, therapeutische Hilfen für Kinder und Hinterbliebene, Opfer von Gewalttaten, Vertriebene und Verletzte.

Was können deutsche Leser von Nigeria lernen?

Manchmal werden unsere besten Seiten erst in schweren Zeiten zum Vorschein gebracht. Wenn wir geprüft werden, meint Gott es ernst mit uns. Boko Haram hat unseren Glauben gereinigt und gestärkt. Die Kirchen und die Priesterseminare sind so voll wie nie zuvor. Die Kraft der Nächstenliebe ist stärker als jede andere Kraft: Die ungeheuerliche Präsenz des Göttlichen wird spürbar und greifbar. Sie veredelt alles und gibt neuen Mut. Alles in allem denke ich, man sollte nichts für selbstverständlich halten und sich auf das Notwendige beschränken – schlicht und einfach leben, damit andere schlicht und einfach leben können.

Father John, was wünschen Sie sich persönlich für die Zukunft Ihrer Diözese und der Kirche?

Die Strukturen für das Miteinander sind da. Ich wünsche mir eine Kultur, in der wieder allen bewusst ist, wie kostbar die zwischenmenschlichen Beziehungen sind, wie unendlich kostbar Frieden und Versöhnung sind. Die Kirche ist ein vertrauenswürdiger, wichtiger Akteur des öffentlichen Lebens. Die Menschen spüren das und öffnen ihre Herzen den religiösen Führungsfiguren, nicht den Politikern. Ich wünsche mir, dass alle Menschen gleich welchen Glaubens respektvoll und offen miteinander umgehen, auch gegenüber ihren Feinden. Ich wünsche mir den unermüdlichen Geist, der niemals aufgibt.

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