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Bilder, die an Schmerz erinnern

Gespräch mit Überlebenden des Attentats von Alexandria an Neujahr 2011. Von Michaela Koller

Noch immer liegen mehr als hundert Menschen, die bei den Bombenanschlägen am Palmsonntag in Ägypten verletzt wurden, im Krankenhaus. Am Sitz des koptisch-orthodoxen Patriarchats in Alexandria, wo bei dem islamistischen Attentat sieben Menschen in den Tod gerissen wurden, fällt auf, dass alle angrenzenden Geschäfte gerade ihre Fassaden renovieren. Durch den Druck der Explosion waren die Schaufensterscheiben zersprungen: Der Selbstmordattentäter hatte sich vor der Sicherheitskontrolle in die Luft gesprengt und wurde dabei zu einer Feuersäule. Inzwischen zeugen nur noch zwei Plakate am Tatort von dem jüngsten blutigen Ereignis: Vor dem Eingang zur Markuskirche hängt eines davon zwischen zwei Säulen: Es zeigt sieben Porträts mit Kronen, darüber, im Himmel sie mit offenen Armen erwartend, Jesus zwischen seiner Mutter Maria rechts und dem Evangelisten Markus, dem ersten Patriarchen von Alexandria, links, erkennbar am Löwen neben ihm.

Unter den Opfern ist rechts oben das Bild eines Kleinkinds zu sehen. Ein Video kursiert derzeit im Internet, das in der christlich-arabischen Welt die Menschen aufwühlt: Es zeigt das Kind nach der Explosion inmitten von Schutt leblos zu Füßen seiner Mutter liegend, die auf dem Boden mit leicht aufgerichtetem Oberkörper versucht, ihre auf dem Bauch liegende Tochter mit dem Fuß anzuheben und daran weinend scheitert, weil ihre Beine gebrochen sind.

Es sind Bilder wie diese, die die überlebenden Opfer und Angehörigen bei dem Attentat auf die Kirche der zwei Heiligen, die Al-Qiddissine-Kirche, in Alexandria in der Neujahrsnacht 2011 schmerzlich an ihr eigenes Leid erinnern. Damals kamen 21 Menschen ums Leben. Einige Kilometer westlich am Rand der Stadt Alexandria befindet sich der Tatort von damals, die Kirche der Heiligen Markus und Peter. Um zu kondolieren, ist eine Delegation von 40 Personen dieser Gemeinde sogar in dieser Woche in Tanta gewesen, wo 35 Menschen durch den Anschlag am Palmsonntag getötet wurden. Im Gemeindesaal, wo einige Überlebende versammelt sind, um ihre Geschichten mitzuteilen.

Mit Erstaunen reagieren sie, als sie erfahren, warum der Dialog zwischen dem Vatikan und der Kairoer Universität al-Azhar sechs Jahre unterbrochen war: Nach dem Attentat appellierte Papst Benedikt XVI. an die damalige ägyptische Regierung, die christliche Minderheit zu beschützen. Nach zwei Machtwechseln sieht der jetzige Präsident Abdel Fattah al-Sisi und mit ihm viele seiner Landsleute offenbar Handlungsbedarf gegen einheimischen Fanatismus: „Die Universität al-Azhar sollte ihr Lehrmaterial überarbeiten, mit dem an den Einrichtungen unterrichtet wird, die ihrem Lehrplan folgen“, sagt ein junger Mann unter den Augenzeugen des Anschlags. Selbst der ägyptische Präsident al-Sisi kritisiere regelmäßig öffentlich den Großscheich Ahmed Mohammed al-Tayyeb wegen seiner Auslegungen der islamischen Überlieferung. Der koptische Christ berichtet von dem Attentat, dem sein Vater zum Opfer fiel: „Wir haben zunächst nur die Verletzung an seinem Bein gesehen.“ Erst später zeigten sich innere Verletzungen. Es folgten mehrere Operationen und Komplikationen, bis der Mann schließlich starb.

Der weißhaarige Familienvater Ismail Abdel Masir Saleb Morgan erinnert sich: Während sein Sohn Mikhail am Gottesdienst in der Sylvesternacht teilgenommen habe, sei er als Witwer zu Hause geblieben, um die Fastenspeise zuzubereiten. Während des Kochens erfuhr er von den Anschlägen auf die Kirche und sei gleich losgelaufen. Zwischen Schutt und Blut fand er seinen Sohn schließlich unter den Toten. „Als Mikhail zwei Jahre alt war, träumte ich von einem Engel, und erfuhr, mein Sohn werde sterben und in den Himmel kommen.“ Das war zwanzig Jahre vor dem Attentat. „Ich habe mich an den Traum erinnert und daher vertraue ich darauf, dass er bei Jesus ist“, fährt der Mann mit dem weißen Oberlippenbart und ernster Mimik fort. Auf die Frage, ob er nicht Wut empfinde über diesen Verlust: „Wir haben Frieden in unseren Herzen und sind stolz auf unsere Märtyrer im Himmel.“

Eine Frau mit sehr heller Haut und schwarzen Haaren stellt sich vor: „Ich bin die Frau des Märtyrers Ismail Iskender.“ Sie und ihre Tochter Nadine gehörten zu den Opfern, die auf Initiative des koptisch-orthodoxen Bischofs Anba Damian, zuständig für Nord-Deutschland, zur besseren medizinischen Versorgung zeitweise nach Deutschland gebracht wurden. Ihre Verletzungen an Kopf, Extremitäten und inneren Organen führten dazu, dass sie fünfzehn Tage lang im Koma lag. Inzwischen musste sie dreißig operative Eingriffe durchstehen, ihre Tochter noch mehr, da bei dieser der Beinknochen wieder aufgebaut werden musste. Es war eine sogenannte „schmutzige Bombe“, erinnert sie, bei der scharfe Metallteile mit besonders kraftvollem Sprengstoff kombiniert wurden. Aus ihrer Handtasche zieht sie ein kleines Plastiktütchen mit einem Kügelchen von drei Millimeter Durchmesser. „Das haben sie vor kurzem noch aus meinem Körper entfernt.“

Eine blonde Frau, die sich „Frau des Märtyrers Adel Aziz“ nennt, berichtet mit starrer Miene von ihren Erinnerungen. Ihr Mann sei der Erste gewesen, den die Explosion mitriss, da er am Eingang gewartet hatte, in der Nähe der Bombe. Nach der Detonation habe sie nur noch an ihre Töchter gedacht, die jüngere davon erst neun Jahre alt. Sie konnte sie nicht gleich sehen. An Blut, Schutt, Verletzten und Toten vorbei ging sie, nicht mehr in der Verfassung anzuhalten, durch das Chaos, um ihre Kinder zu finden. Während sie so die Erinnerung an den Schrecken wachruft, sinkt die schwarzhaarige Frau, die zuvor gesprochen hat, in sich zusammen. Andere Zeuginnen begleiten sie an die frische Luft. Eine 19-jährige Frau, die damals ihren Bruder verloren hatte, war ihr schon vorausgegangen. Die Aufbruchstimmung breitet sich aus, die Kraft, um die schrecklichen Bilder im Gedächtnis zu beschreiben, ist bei den Überlebenden geschwunden. Augenzeuge Hany Mikhail Botros bleibt noch im Gemeindesaal und sagt: „Nach alldem, was wir hier erlebt haben, ist unser Glaube tiefer geworden.“

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Kirche

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28.03.2024, 21 Uhr
Regina Einig