Katholische Moraltheologen haben Kritik an den klinisch-ethischen Handlungsempfehlungen für „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie“ geäußert, die vergangene Woche von sieben medizinischen Fachgesellschaften in Berlin vorgestellt wurden.
Die Triage schützt die Schwächsten nicht
Zwar erkenne auch die Moraltheologie „mit Blick auf die ärztliche Pflicht zur Lebenserhaltung jedes einzelnen Menschen“ den „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ an, demzufolge „Art und Umfang der Hilfeleistung relativ zu den vorhandenen Kapazitäten, den therapeutischen Erfolgsaussichten sowie den möglicherweise prioritären Hilfspflichten gegenüber Dritten zu betrachten sind“. „Gemäß dem Prinzip der Schadensvermeidung (primum non nocere) wäre indes von einer unterlassenen Hilfeleistung auszugehen, sofern in einer Klinik entschieden würde, Intensivbetten für potentiell bedürftigere Fälle freizuhalten“, schreibt der Moraltheologe Thomas Bahne von der Universität Erfurt in einem Beitrag für diese Zeitung.
„Die Anwendung dieses Prinzips verbietet auch eine Triage bei Ex-post-Konkurrenz, bei der die weiterhin indizierte lebenserhaltende Behandlung eines COVID-19-Erkrankten abgebrochen würde, um den dafür erforderlichen Respirator zur Rettung eines anderen Patienten einzusetzen. Das Gute darf nicht auf Kosten des Gerechten verwirklicht werden“, so Bahne weiter. Gemäß dieser Präferenzregel erfahre in ethischen Konfliktfällen „die Hilfeleistung für den einen dort ihre Grenze, wo das fundamentale Recht eines anderen auf Weiterbehandlung verletzt wird, insbesondere wenn es sich um eine vulnerable Person handelt, die ihre Ansprüche nicht aus eigener Kraft geltend machen kann. Dazu verpflichtet aus theologisch-ethischer Perspektive auch die Selbstidentifizierung Jesu mit dem „geringsten“ Menschen (Mt 25,40).“ Es sei „das Dilemma der Triage, dass sie die Schwächsten nicht schützt“.
„Erste Ankunft, erste Hilfe“
Ähnlich äußert sich auch der Paderborner Moraltheologe Peter Schallenberg in einem weiteren Beitrag für die „Tagespost“. „Jeder Mensch hat die gleiche Würde und das gleiche Recht, auch und gerade im Feld der Gesundheitsversorgung. Daher wird seit altersher die Figur der Gerechtigkeit mit verbundenen Augen dargestellt: Ohne Ansehen des Erfolgs oder der Prognose erhält jede Person den gleichen und gerechten Zugang zu medizinischer Behandlung, auch wenn diese sehr teuer oder sehr knapp ist. Es gibt keine Selektion, außer durch die Zeit, also den Zeitpunkt des Eintreffens des Patienten am medizinischen Standort.“ Deshalb dürfe eine bereits begonnene intensivmedizinische Behandlung einer Person nur dann „zugunsten einer anderen“ abgebrochen werden, wenn Ärzte zu der Ansicht gelangen, dass der Sterbeprozess „unausweichlich begonnen“ habe und „keine Aussicht“ auf ein „längeres Überleben“ des Patienten mehr besteht. „Es gibt nämlich keine Pflicht zur Lebensverlängerung um jeden Preis.“ Ansonsten gelte „first come, first served (erste Ankunft, erste Hilfe)“.
Keine durchgängige patientenzentrierte Betrachtung
Wie der Münchner Medizinethiker Georg Marckmann, dessen Arbeitsgruppe die nun in der Kritik stehenden Handlungsempfehlungen erarbeitet hatte, der Tagespost auf Anfrage bestätigte, stehe „eine patientenzentrierte Betrachtung“ zwar „an erster Stelle, damit nur dann eine Intensivtherapie fortgeführt wird, wenn diese noch eine realistische Erfolgsaussicht hat und vom Patienten noch gewünscht ist.“ „Sollte sich die Situation aber weiter zuspitzen im Sinne eines Zustroms sehr vieler intensivpflichtiger COVID-19-Patienten,“ dann sollten auch andere Patienten in die Priorisierung einbezogen werden. Marckmann: „Aus Gründen der Gleichbehandlung sollten alle Patienten in die Auswahl-Entscheidung einbezogen werden, die sich aktuell in der Klinik befinden, d.h. ein Patient mit einer sehr schlechten Prognose wird nicht allein deshalb bevorzugt, weil er bereits beatmet wird. Dies könnte nämlich dazu führen, dass die Intensivbetten über Wochen mit Patienten belegt sind, die eine sehr schlechte (aber nicht ganz aussichtslose) Prognose besitzen, sodass viele Patienten mit besseren Erfolgsaussichten nicht aufgenommen werden können und im gleichen Zeitraum versterben.“
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