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Litauen: Unterwegs im Land der Kreuze

Ob Vilnius, Kaunas oder Klaipeda: Überall im Baltikumstaat Litauen finden sich Zeugnisse der Frömmigkeit. Ein Symbol nationaler Identität ist der Berg der Kreuze.

Ännchen von Tharau hat wirklich gelebt: Anna Neander (1615-1689) hieß sie. Mit 19 Jahren heiratete die Tochter des Dorfpfarrers von Tharau den jungen Geistlichen Johann Portatius. Der Königsberger Dichter und Professor für Poetik Simon Dach schuf dazu ein im samländischen Niederdeutsch gehaltenes Lied, das mit dem Vers beginnt: „Anke von Tharaw öß, de my geföllt / Se öß min Lehwen, min Goet on min Gölt.“ Der Königsberger Domorganist Heinrich Albert vertonte das Lied. Der Ostpreuße Johann Gottfried Herder übertrug das Lied 1778 in die hochdeutsche Form. Er veröffentlichte es 1807 unter dem Titel „Ännchen von Tharau“.

Der schwäbische Musiker Friedrich Silcher schließlich unterlegte 1827 die heute allgemein bekannte Melodie. Zum Gedenken steht im litauischen Klaipeda (ehemals Memel) auf dem Theaterplatz der Simon-Dach-Brunnen, den Ännchen von Tharau krönt. Nicht lange muss man warten, bis einige Jungen und Mädchen herbeieilen, um gegen klingende Münze zehn der ursprünglich 17 Strophen zu rezitieren.

Das Tor zur Welt

Klaipeda, das trotz seines großen Industriehafens eine Kleinstadtatmosphäre bewahrt hat, ist Ausgangspunkt einer Kurzreise durch Litauen, dem südlichsten der drei europäischen Baltikumsstaaten. Eine Stippvisite in Vor-Corona-Zeiten. Litauens einzige Hafenstadt und „Tor zur Welt“ liegt an der Mündung des Kurischen Haffs in die Ostsee. „Land der Kreuze“ wird Litauen oft genannt. Zurecht. Kreuzwegstationen oder aufwendig verzierte Wegkreuze aus Holz prägen die Landschaft. Ohnehin existiert ein ausgeprägter Marienkult. Öffentlich manifestiert sich das in den Wallfahrten, etwa in der Hauptstadt Vilnius (Wilna) zur Barmherzigen Muttergottes im „Tor der Morgenröte“. Die mit einem goldenen Gewand bedeckte „Mutter der Barmherzigkeit“ ruht auf einer Eichenholzplatte und wird von Katholiken wie auch von orthodoxen Christen verehrt, tausende Votivgaben an den Wänden der Kapelle sind Zeugnis davon. Im Rahmen seiner viertägigen Reise durch das Baltikum betete Papst Franziskus am 22. September 2018 in der Wallfahrtskapelle „Mater Misericordiae“. Anlass der Reise durch Litauen, Lettland und Estland war, dass die drei Staaten vor hundert Jahren ihre Unabhängigkeit von Russland erklärten.

Rom des Ostens

Vilnius überrascht den Besucher mit einer Vielzahl prächtiger Kirchen und Klöster. Dicht an dicht stehen die Kirchen im Stadtzentrum, gotisch, barock, katholisch, orthodox und eine schöner und kulturhistorisch bedeutender als die andere. Die Hauptstadt Litauens gilt daher in Reiseführern als das „Rom des Ostens“. Denn es gibt wohl keinen Winkel in der Altstadt, von dem aus nicht mindestens drei Kirchtürme zu sehen sind. Tatsächlich soll es 44 Kirchen in der Altstadt geben. Ins Blickfeld fällt die Kirche St. Anna, ein Meisterwerk der Backstein-Gotik und eine der schönsten Kirchenbauten Nordosteuropas.

Beeindruckend ist auch die Kathedrale St. Stanislaus und St. Ladislaus, die das Stadtbild am Kathedralenplatz im Herzen der Altstadt von Vilnius dominiert. Der separate Glockenturm war einmal Teil der Stadtmauer. Daran erinnern die schmalen Fenster in den unteren Stockwerken, ehemalige Schießscharten. Später wurde der Turm aufgestockt und als Glockenturm genutzt. Es empfiehlt sich, das Ensemble aus einiger Entfernung zu betrachten. So lässt sich am besten die meisterliche Architektur dieser beiden historischen Gebäude ermessen.

Pittoreske Altstadt

Pittoresk ist auch die Altstadt von Kaunas (deutsch Kauen). Von 1920 bis 1940 war sie die provisorische Hauptstadt des Landes, heute gliedert sie sich in zwei Teile - die Altstadt und die Neustadt. Wo die Neris auf den Nemunas, zu Deutsch die Memel, trifft, liegt Litauens zweitgrößte Stadt. Neben dem äußerlich weißen Rathaus, das dank seiner eleganten Form den Beinamen „Der Schwan“ genannt wird, zählen einige Kirchen zu den besonderen Sehenswürdigkeiten. Darunter die Vytautas-Kirche (Mariä-Himmelfahrt-Kirche), in der Litauens berühmter Geistlicher und Schriftsteller Juozas Tumas-Vaizgantas begraben liegt, sowie die die barocke Jesuitenkirche, die Dreieinigkeitskirche und die St. Peter-und-Paul-Kathedrale. Die gotische Backstein-Kathedrale ist Bischofskirche der Erzdiözese. und verfügt über neun Altäre. Das Innere der Kirche erstrahlt in barocker Pracht. An der Südwand von St. Peter und Paul befindet sich das schlichte Grab von Jonas Maèiulis-Maironis, einem litauischen Dichter und katholischem Theologen sowie Professor. Sein Grab ist heute eine nationale Gedenkstätte.

Berg der Kreuze

Ein Symbol nationaler Identität, aber auch eine Attraktion für Reiseveranstalter ist der „Berg der Kreuze“, etwa zwölf Kilometer von Šiauliai (Schaulen) im Norden des Landes gelegen. Neben der Altstadt von Vilnius und der Backstein-Wasserburg von Trakai ist der Hügel wohl das am meisten besuchte Touristenziel in Litauen. Dabei scheinen oft manche Touristen vergessen zu haben, was das Kreuzzeichen tatsächlich bedeutet. Eine Treppe aus Holzbohlen und mehrere Trampelpfade führen durch einen Wald aus Kreuzen hinauf zum gerade einmal zehn Meter hohen Gipfel, den eine große Marienstatue krönt. Verschiedene Legenden kursieren über die Entstehung. Die ersten Kreuze wurden demnach nach den polnisch-litauischen Aufständen gegen die zaristischen Machthaber im 19. Jahrhundert aufgestellt.

250.000 Kreuze

Jedenfalls hatte der „Kryžiu kalnas“ mit den heute schätzungsweisen mehr als 250.000 Kreuzen, an denen überwiegend Rosenkränze hängen, während der Sowjetzeit eine religiöse wie auch politische Bedeutung. Denn das Aufstellen von Kreuzen als Ausdruck der Volksfrömmigkeit wurde zum anonymen, aber sichtbaren Zeichen des Widerstands gegen das Regime. Mehrfach wurden die Kreuze daher auf Weisung Moskaus niedergewalzt, von den Gläubigen aber immer wieder neu errichtet. Als Symbol des unerschütterlichen Glaubens besuchte auch Papst Johannes Paul II. bei seiner Pilgerreise 1993 den Ort und zelebrierte vor 100.000 Menschen einen Gottesdienst. Im Jahr 2000 wurde ein im Auftrag von Papst Johannes Paul II. erbautes Kloster am Berg der Kreuze errichtet, das heute der Kontemplation und als Ort des Gebets dient. Eines der vielen Kreuze sticht besonders ins Auge. Das große Kreuz mit Christusfigur wurde im Jahr 1993 vom Vatikan gestiftet.

Kontrastreiche Landschaft

Die Reise führt zurück zum Ausgangspunkt Klaipeda. Von hier setzt man mit der Fähre über zur Kurischen Nehrung, der fast hundert Kilometer langen Landzunge, die das Kurische Haff von der Ostsee trennt und an der schmalsten Stelle gerade einmal 380 Meter misst. Die Grenze von Litauen und Russland verläuft hier und trennt die Halbinsel in zwei Hälften. Eine Landzunge voller Kontraste - mit Dünen und Kiefernwäldern. Inmitten dieser Dünenlandschaft liegt das denkmalgeschützte Fischerdorf Nida (Nidden) mit seinen bunten Holzhäusern. Der Literatur-Nobelpreisträger Thomas Mann nannte die Dünen von Nida einmal das „Sahara des Nordens“. 1930 bezog der Schriftsteller ein Sommerhaus auf der Kurischen Nehrung mit Blick auf das Haff und das Memeldelta. Drei Jahre später waren Thomas Mann und seine Familie gezwungen, Deutschland zu verlassen, sie kehrten nie wieder nach Nida zurück. Im ehemaligen Ferienhaus, einem rotbraunen Holzhaus mit Reetdach und in „Niddener Blau“ gehaltenen Fensterläden, befindet sich heute ein litauisch-deutsches Kulturzentrum.

Thomas Mann war seinerzeit von der „phantastischen Welt der Wanderdünen“, der Kiefern- und Birkenwälder zwischen Haff und Ostsee und der „wilden Großartigkeit des Strandes“ ergriffen. Das gilt im Grunde bis heute.

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