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Martinstag im polnischen Posen

Der Martinstag wird weltweit begleitet von vielen Bräuchen wie Umzügen, Singspielen und kulinarischen Köstlichkeiten wie den süßen Martinshörnchen. Nirgendwo sonst sind sie so beliebt wie im polnischen Posen, wo sie vielleicht erfunden wurden.
Martinshörnchen mit Zuckerguss und kleingehackten Nüssen
Foto: Heinke | Die Martinshörnchen gehören seit Jahrhunderten zur Stadt – hier mit Zuckerguss und kleingehackten Nüssen bestreut.

Um den Alten Markt von Posen (Poznañ) weht ein verführerischer Duft von frisch Gebackenem. Wer seine Spur aufnimmt, gelangt zu seinen Quellen – meist eher kleine Bäcker- und Konditorläden. Jetzt im Herbst, und ganz besonders vor dem Martinstag, stehen davor Menschen sogar Schlange. Geduldig warten sie auf das, was so gut riecht und noch viel besser schmeckt: Posener Sankt-Martins-Hörnchen (auf Polnisch: Rogal œwiêtomarciñski).

Seit Jahrhunderten gehört die süße Leckerei zu der alten polnischen Handelsstadt – so wie ihr wunderschönes Rathaus und die prunkvollen Bürgerhäuser rund um den weitläufigen Marktplatz, der Dom St. Peter und Paul und jede Menge Gotteshäuser mehr oder Europas jüngstes Kaiserschloss, 1905/13 nach Entwürfen Wilhelm II. im Stil einer mittelalterlichen Burg erbaut. Seit 1962 dient das neoromanische Gebäude als Kultur- und Bildungszentrum.

Großzügige Portionen

„40 Zloty (etwa 8,75 Euro)“ steht in großen roten Ziffern auf dem Preisschild, das aus dem dicht belegten Backblech ragt. Lauter dicke, mit Zuckerguss und kleingehackten Nüssen überzogene Hefeteile zwängen sich darauf. Viele solcher Bleche stapeln sich im Regal der Bäckerei Liczbañscy. Noch. Denn die strammen Stückchen sind begehrt und wandern flugs und tütenweise über den Ladentisch.

„Wie viele?“, fragt Elzbieta Tonak, die Verkäuferin. Angesichts der großzügigen Portionierung würde eins wohl auch für zwei Personen reichen. Doch natürlich gibt es keine halben. Also: „Eins nur, bitte!“ Elzbieta legt es auf die Waage: 235 Gramm. Die rote Zahl war nur der Kilopreis.

„Macht 9,40 Zloty (zwei Euro)“, sagt die weiß beschürzte Frau, tauscht Ware gegen Geld und hat noch einen Tipp: „Wenn Sie sich beeilen, sehen Sie um zwölf die Ziegenböcke.“ Vorschlag angenommen, zumal die beiden Tiere Stadtmaskottchen sind – wenn auch längst nicht so berühmt wie Martinshörnchen.

Beeindruckende Rathausarchitektur

Die Verkostung findet also auf der Straße, jedoch in angemessener Umgebung statt. Nur fünf Minuten sind es bis zum Proserpina-Brunnen vor dem Rathaus. Stolz reckt dieses seine Türme in den Himmel. Bereits im 13. Jahrhundert entstanden, verlieh ihm in den 1550er-Jahren der schweizerisch-polnische Architekt Giovanni Battista di Quadro (der auch das Königsschloss in Warschau schuf) sein heutiges prachtvolles Antlitz. Es zählt zu den schönsten Renaissance-Gebäuden Mitteleuropas. Seit 1954 dient es als Städtisches Museum.

Essen, das satt macht

Der Platz davor ist schon recht gut gefüllt. Es geht auf Mittag. Wer jetzt im Zentrum ist, will vor der großen Turmuhr stehen, wenn die Glocke zwölfmal schlägt. Noch ist genügend Zeit, endlich von dem vielgelobten Backwerk zu probieren. Es schmeckt tatsächlich richtig gut – außen knusprig-nussig, innen weich und dank Füllung aus Vanille, Sahne, Weißmohn, Datteln oder Feigen und Rosinen auch überhaupt nicht trocken. Und wie satt man davon wird!

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Endlich rückt der große Turmuhrzeiger ganz nach oben. Alle schauen ganz gespannt, lauschen dem Trompetenspiel, zählen die Glockenschläge. Überm Ziffernblatt öffnen sich zwei Türen. Die beiden Ziegenböcke Tyrek und Pyrek fahren heraus und gehen vis-a-vis in Stellung, senken die Köpfe und tun so, als ließen sie die langen dünnen Ringelhörner aufeinander krachen.

Auf der Flucht vorm Bratenspieß sollen sich im 16. Jahrhundert zwei weiße Hörnertiere einst bis auf das Turmgesims gerettet haben. Ihrer Lebenslust zur Ehre hat man sie im Uhrenspiel verewigt. Die simple, altmodische Mechanik, die den hölzernen Bewegungen von Hampelmännern ähneln, rühren Menschen jeden Alters. Digital konditionierte Kinder machen große Augen. Für Erwachsene ist es die pure Nostalgie.

Backwerk aus dem Hörnchenmuseum

Szenenwechsel. Gleicher Ort, nur vier Etagen höher. Wieder schnuppert es nach warmem Backwerk – diesmal aus dem Ofen des sogenannten Hörnchenmuseums (Rogalowe Muzeum Poznania) direkt vis-a-vis vom Rathaus. Posens heißgeliebtem Leckerbissen widmet man sich hier vor allem unterhaltsam. Statt ausgestellt wird vorgeführt, erzählt und mitgemacht. Showmaster Maciej Marcinowski sieht mit seiner großen Pludermütze wie ein richtiger Konditor aus.

„Hereinspaziert!“, ruft der Schauspiel-Profi seinen letzten Gästen zu. Die Vorführung kann starten. Bevor der junge Pole zeigt, wie man den Teig zusammenrührt und knetet, auseinanderrollt und schneidet, füllt und formt und bäckt, um dann die Hörnchen warm und duftend zu glasieren und mit einem Krümelmix aus Keks und Nüssen zu bestreuen, erzählt er die Geschichte der berühmten Posener Erfindung.

Legenden um die Hörnchenform

Oft hört man, die Hörnchen hätten ihre Form dem Ziegenkopfschmuck zu verdanken. Doch standen ihrem Prototyp wohl eher Ochsenhörner Pate. Denn schon in vorchristlicher Zeit, als man hier im Herbst den Heidengöttern Rinder opferte, buk man gleichfalls süße Teilchen, die deren Kraft symbolisieren sollten.

Die in Polen meistverbreitete Legende meint, das krumme Küchlein stelle ein Hufeisen dar – und zwar eines von dem Pferd des römischen Soldaten Martinus, der seinen Mantel freizügig mit einem Bettler teilte und zum Christen wurde.

Überzeugt von seinem Glauben, brachte er das Mönchtum in das Abendland und lebte stets in den bescheidensten Verhältnissen, selbst noch als Bischof von Tours, das damals noch eine römische Stadt war und Caesarodunum hieß. Nach seinem Tod im Jahre 397 wurde der fromme Mann kanonisiert. Bis heute zählt er als Sankt Martin (polnisch: Œwiêty Marcin) zu den beliebtesten Heiligen.

Gebäck für die Armen

In Posen ist ein Stadtteil nach ihm benannt. Bis vor rund 300 Jahren eine eigenständige Gemeinde, wuchs dieser rund um das namensgebende Gotteshaus von anno 1240. Im 19. Jahrhundert hatten hier ein Pfarrer und ein Bäcker die Idee, das St.-Martins-Hörnchen nach dem Vorbild seines Namenspatrons zum Symbol der Nächstenliebe zu machen. Die Bäcker sollten extra viele Hörnchen backen und den reichen Posenern verkaufen, damit diese sie den Armen schenkten.

Diese schöne Tradition besteht bis heute. Jedes Jahr am 11. November werden viele tausend Hörnchen an Bedürftige verteilt. Rund 100 Konditoreien und Bäckereien in Posen besitzen die Lizenz, das als regionale Marke geschützte St.-Martins-Hörnchen herzustellen. Rund 500 Tonnen sind es jährlich. Die Hälfte davon wird allein am Martinstag verkauft.

 

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