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Friedhof der Namenlosen: Namenlos und nicht vergessen

Den Zentralfriedhof kennt jeder. Am Rand von Wien trifft man aber auf ein viel bewegenderes Besuchsziel: den Friedhof der Namenlosen.
Friedhof der Namenlosen, Kreuz auf einer Grabstätte
Foto: Drouve

Es ist einsam. Kleine Kreuze aus Gusseisen steigen aus den Gräsern und Blütenmeeren. Hoch oben raschelt der Wind durch Kastanien. Die Sonne siebt Licht durch die Bäume, als wären es Schimmer des Trostes und der Hoffnung, die sich über das Gräberfeld legen. Symmetrische Reihen und weniger strukturierte Anordnungen verzahnen sich auf dem Friedhof der Namenlosen. Wer hierher kommt, hat eines der bewegendsten, ungewöhnlichsten und entlegensten Besuchsziele in Wien erreicht. Das Flair, die Umgebung ist ganz anders als auf dem berühmten Zentralfriedhof, einem Touristenmagneten, was sich alleine durch Grabpaläste und die Ruhestätten Prominenter wie Ludwig van Beethoven, Falco und Udo Jürgens erklärt.

Es braucht Zeit, bis man zum Friedhof der Namenlosen an den äußersten Südostläufern der Donaumetropole gelangt: zunächst in der U-Bahn zum Enkplatz, dann Umstieg in den Linienbus und vorbei an Gewerbegebieten und Schrebergärten bis zur Endstation Alberner Hafen, dann zehn Minuten zu Fuß auf knirschendem Kies den Schildern nach. Fernab der Zivilisation ist man trotzdem nicht unterwegs – gegen Ende geht es an einem Betonwerk vorbei.

Letzte Ruhestätte für Selbstmörder

Unterhalb des Zugangswegs, abgeschirmt durch einen Hochwasserdamm unweit der Donau, ist der Friedhof in eine grüne Mulde gebettet. Darüber liegt die Auferstehungskapelle, ein ovaler Bau, zu dem ein Schaukasten gehört. Dort hängt das „Gebet für unsere Erde“ von Papst Franziskus aus, das ein treffendes Geleit gibt: „Gott der Armen, hilf uns, die Verlassenen und Vergessenen dieser Erde, die so wertvoll sind in deinen Augen, zu retten.“ Die Worte des Heiligen Vaters sind wichtig für die nachfolgende Verinnerlichung der Eindrücke auf dem Friedhof, denn: Hier haben vornehmlich Selbstmörder ihre letzte Ruhe gefunden. Im Zeitraum von 1840 bis 1940 wurden sie im nahen Hafenbereich zusammen mit Treibgut von der Donau angeschwemmt; dafür sorgte ein Strudel. Von vielen weiß man weder den Namen noch die exakte Todesursache. „Unbekannt“ steht auf manchen Gräbern, „Namenlos“ auf anderen. Insgesamt verteilen sich 102 Gräber über das Gelände. Der Friedhof – als Liegenschaft im Besitz des Wiener Hafens – steht unter Denkmalschutz. Er ist jederzeit frei zugänglich.

„Für uns sind alle Gräber gleich“

„Hier habe ich schon als Kind meinem Großvater, der genauso hieß wie ich, bei der Pflege der Gräber geholfen“, erinnert sich Josef Fuchs. Er und seine Frau Rositta kümmern sich ehrenamtlich um das Areal. „Als wir früher mit dem Großvater hier waren, war alles Wald“, blickt der 61-jährige Fuchs zurück, der hauptberuflich als Technischer Angestellter bei der Stadt Wien arbeitet. „Unheimlich“ sei ihm der Friedhof damals nie gewesen, „für uns Kinder war das normal“. Ebenso normal und selbstverständlich ist für das Ehepaar Fuchs, dass sie pro Monat etwa 30 Stunden in die Instandhaltung investieren. Den Rasen mähen, Unkraut entfernen, die Hecken schneiden, Laub wegräumen, die Kapelle säubern – es gibt immer etwas zu tun. Bevorzugte Winkel haben die beiden nicht. „Für uns sind alle Gräber gleich“, sagt Josef Fuchs und räumt ein, dass der Name „Friedhof der Namenlosen“ im Grunde nicht ganz korrekt ist. Es gibt sehr wohl einige Gräber mit Namen, da die Identitäten im Nachhinein geklärt werden konnten.

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Wer Glück hat, trifft Fuchs persönlich und die Auferstehungskapelle geöffnet an. Drinnen schaut man auf schlichte Buntglasfenster, Holzbänkchen mit Sitzkissen, Klappstühle. Regelmäßig, jeden ersten Sonntag im Monat um 15.30 Uhr, steht hier eine Messe an.

Den Menschen nicht vergessen

Ein blaugelber Läufer ist vom Portal bis zur Stufe zum Altar hin ausgelegt. Auf dem Altartisch steht ein moderner Christus in Kleinformat, gleich dahinter dominiert der Auferstandene im Strahlenkranz ein buntes Wandgemälde. Darüber zieht sich ein Bibelzitat über den Umfassungsbogen: „Wer lebt und an mich glaubt, wird nicht sterben in Ewigkeit“ (Joh. 11,26). Rechts neben dem Altar deutet Josef Fuchs auf eine Vitrine. Sie enthält zwei Grabkreuzfragmente vom ursprünglichen Friedhof. „Doch davon hat sich nichts erhalten“, sagt er. Draußen an der Fassade erinnert eine Tafel an seinen Opa Josef Fuchs (1906–1996), den Träger des goldenen Verdienstzeichens des Landes Wien, der laut Inschrift „über sechzig Jahre bis zu seinem Tod den Friedhof der Namenlosen und die Gräber aufopfernd gepflegt und betreut hat“. Fuchs ergänzt zu seinem Großvater die christliche Einstellung, geknüpft an den Gedanken des Erbarmens, der Gnade, der Gleichbehandlung: „Er war der Meinung, dass man diese Menschen nicht vergessen soll, obwohl sie Selbstmord begangen hatten.“

„Dieser Friedhof hat eine eigene Atmosphäre, das höre ich von Besuchern immer wieder“, sagt Josef Fuchs. Er habe jemanden gekannt, erzählt er weiter, der öfters voller Verzweiflung hierher kam, über das Dasein sinnierte und nach dem längeren Aufenthalt feststellte, dass es ihm eigentlich gut ging. Im legendären Liebesfilm „Before Sunrise“ (1995) spielte hier eine Szene mit den Hauptdarstellern Ethan Hawke und Julie Delpy.

Berührt von der morbiden Stimmung

Das morbide Friedhofsflair zieht seltsam hinein. Da stört auch der Lärm des benachbarten Betonwerks nicht, der gelegentlich die Stille durchbricht. Man fühlt sich berührt, erfasst von der Stimmung im Grünen. Die Zier der Gräber mit gusseisernen Kreuzen ist Großvater Fuchs zu verdanken. Dank seiner Kontakte zur Wiener Bestattung bekam er diese Art Kreuze von aufgelösten Gräbern, die hier die früheren Kreuze aus Birkenholz ersetzten. Obgleich seit 1940 keine Bestattungen mehr vorgenommen werden, verfügt Enkel Fuchs noch über ein kleines Kreuzedepot zur Weiterverwendung, verrät er.

Zwei Gräber heben sich von anderen ab. Auf dem nachweislichen Grab eines Neugeborenen steht schlicht „Sepperl“, auf einem anderen: „Hier ruht Wilhelm Töhn, ertrunken durch fremde Hand am 1. Juni 1904 im 11. Lebensjahr.“ Kleine Plüschtiere liegen davor. Dann wieder geht es zu den „Namenlosen“. Mittendrin hat irgendwer einen bemalten Stein auf den Boden gelegt, ein winziges Engelsfigürchen. Es sind Zeichen der Anteilnahme, der Ergriffenheit von Besuchern. Unter einer großen Kastanie laden zwei Bänke zur Rast und Reflexion ein. Welche Schicksale mochten hinter den Verzweiflungstaten der „Namenlosen“ gestanden haben? Warum kam es letztlich zum Äußersten, sich selber zu richten? Gab es niemanden, dem sie sich anvertrauen konnten, der sie von ihrem Vorhaben abzuhalten vermochte?

Der Wert aller Dinge

Beim Abschied vom Friedhof fällt der Blick aufs Neue auf die Vitrine mit dem Gebet von Papst Franziskus: „Lehre uns, den Wert von allen Dingen zu entdecken und voll Bewunderung zu betrachten; zu erkennen, dass wir zutiefst verbunden sind mit allen Geschöpfen auf unserem Weg zu deinem unendlichen Licht.“ Unter dem tiefen Eindruck des Friedhofs der Namenlosen müsste man das Wort „allen“ in Großbuchstaben herausstellen.

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