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Verzeihung als Freikarte für Verbrechen?

In der zweiten Folge des Tagespost-Podcasts „Geistreich“ sprechen der Münchner Imam Usman Naveed und die Theologiestudentin Miriam Geske über das Thema Verzeihung. Miriams Vater wurde vor 14 Jahren von Islamisten in der Türkei ermordet.
Jesus ist am Kreuz für alle Sünden der Welt gestorben.
Foto: Angelika Warmuth (dpa) | "Jesus ist am Kreuz für alle Sünden der Welt gestorben. Für Mörder, Kinderschänder, für alle!", meint Miriam Geske.

Kann man alles verzeihen? Kann man den Menschen vergeben, die absichtlich den eigenen Vater getötet haben? Die verursacht haben, dass er nicht mehr morgens das Frühstück bereitet, dass er nicht mehr nach Hause kommt und einem über den Kopf streichelt, dass er einen nie zum Altar führen kann. 

Was unverzeihlich scheint, hat Miriam Geske verziehen. Ihr Vater wurde vor 14 Jahren von extremistischen Muslimen in der Türkei erstochen. „Den Mördern durfte ich wirklich ganz vergeben, weil Jesus in meinem Leben ist, weil ich mir dachte: Wenn Jesus mir vergeben hat, wer bin ich, dass ich nicht vergebe?“, fragt Miriam in der zweiten Folge des Tagespost-Podcasts „Geistreich“. Der Schritt sei aber nicht einfach gewesen: „Da ist Schmerz und es tut weh, wenn man jemanden verliert.“ Doch die bewusste Entscheidung zu verzeihen habe auch Miriam selbst geholfen: „Es ist wirklich eine Befreiung. Ich habe keinen Groll, keinen Hass, keine Wut, sondern ich habe ganz im Gegenteil Freude und inneren Frieden. Also ich darf diese Vergebung auch wirklich spüren.“

"Mein Wunsch ist, dass ich
die Mörder meines Vaters treffe"

Das alles sagt Miriam in einem ruhigen, sachlichen Tonfall. Ihre Stimme zittert nicht, man hört keine unterdrückte Wut, keine Verzweiflung, sie schluckt nicht betroffen und hat auch keine feuchten Augen. Die Vergebung, von der sie spricht, sieht man ihr förmlich an. Doch die 22-Jährige, die die freikirchliche Jüngerschaftsschule „Jugend mit einer Mission“ in Kanada besucht hat, geht noch weiter: „Mein Wunsch ist, dass ich die Mörder meines Vaters treffe. Ich will ihnen sagen, dass ich ihnen wirklich ganz vergeben habe und ich würde ihnen wirklich gern sagen, dass ich sie von Herzen liebe. Genauso wie ich meinen Bruder, meine Schwester, meine Freunde liebe: Ich liebe sie! Nicht weil ich lieben kann, sondern weil Jesus diese Liebe für sie in mein Herz gelegt hat.“

Für den Münchner Imam der Ahmadiyya-Gemeinschaft, Usman Naveed ist das unverständlich: „Ich würde den Mördern nicht vergeben, denn sie haben eine üble Tat getan und sie haben keine Einsicht gezeigt. Wenn sie Einsicht zeigen würden und um Vergebung bitten würden, käme die Vergebung in Frage. Aber so würde sich das Übel in der Welt doch noch mehr verbreiten. Da würde ich versuchen, dass dieser Mensch die volle Härte des Gesetzes spürt.“ Miriam dagegen ist für bedingungslose Verzeihung: „Ich denke mir, wenn Jesus für mich gestorben ist, die auch Sünderin ist und für jeden Menschen gestorben ist, egal was für eine Sünde der Mensch getan hat: Was für eine Liebe ist das, was für eine Vergebung ist das! Und in Matthäus: 5,45 heißt es auch ,Liebe deine Feinde!' Und was heißt lieben? Lieben heißt, ihnen zu vergeben, sie zu segnen und für sie da zu sein. Das ist nichts Menschliches. Es ist Gott, der diese Liebe in mein Herz hineinlegt und nicht ich!“

Sünde trennt von Gott

Usman stößt sich aber an der Aussage, dass Jesus für alle Sünden der Welt gestorben sein soll: „Wenn Jesus allen verziehen hat, hat er dann auch den Kinderschändern verziehen oder den Vergewaltigern verziehen, die  immer weiter machen?“ Für die 22-jährige ist gerade das der Knackpunkt, der für Nicht-Christen schwierig nachzuvollziehen ist: „Jesus ist am Kreuz für alle Sünden der Welt gestorben. Für Mörder, Kinderschänder, für alle! Und das Wesentliche ist: Sünde trennt von Gott. Sie macht die Beziehung zwischen Gott und Mensch kaputt. Ob man mordet oder lügt: Es trennt von Gott. Und deshalb ist es wichtig, dass Jesus wirklich alles vergeben hat.“

Für den Imam ist diese Sichtweise schließlich nicht nur unverständlich, sondern aus seiner Sicht birgt diese Einstellung sogar eine gewisse Gefahr: „Ein Vergewaltiger oder ein Mörder denkt so vielleicht: Meine Sünden werden ja sowieso vergeben. Er ist vielleicht in einem christlichen Haus aufgewachsen und ihm wurde in der Kirche beigebracht, dass er alles machen kann. Dass er Kinder und Frauen vergewaltigen kann, denn am Ende des Tages wird ihm durch das Sühneopfer von Jesus sowieso vergeben. Das ist sehr gefährlich finde ich.“ Verzeihung als Freikarte für Verbrechen? Miriam sieht darin eine falsche Schlussfolgerung des Evangeliums. Auch Paulus betone in der Bibel, dass Vergebung keine Ermutigung sein solle weiter zu sündigen oder sogar noch mehr zu sündigen. „Der Knackpunkt ist glaube ich eher der, dass man versteht, wie sehr Jesus einen geliebt hat. Er hat gelitten für mich und für dich und für jeden auf dieser Erde. Wenn man das wirklich versteht, kann man gar nicht anders, als sich zu ändern und nicht mehr sündigen zu wollen.“

Fruchtbarer Austausch mit Andersgläubigen

Verzeihung bedeute letztendlich auch nicht den anderen ungestraft für seine Taten davonkommen zu lassen: „Die Mörder wurden gesetzlich bestraft. Und ich finde, Gerechtigkeit ist auch wichtig. Nur die volle Gerechtigkeit finde ich kann man erst im Himmel erreichen, wenn man vor Gottes Thron steht und er uns richtet. Hier auf Erden versuchen wir zwar diese Gerechtigkeit herzustellen, aber das können wir nicht vollkommen und ganz, so wie es eigentlich sein sollte.“ 

Das Gespräch zwischen dem Muslim und der Christin zeigt einmal mehr: In der Diskussion mit Andersgläubigen wird einem der Spiegel vorgehalten, der einem zeigt, wo die eigene Überzeugung noch nicht ganz in sich schlüssig ist oder noch verständlicher vermittelt werden kann. Die Diskussion mit Andersgläubigen bringt uns einmal mehr ins Hinterfragen, der Wahrheit einen Schritt näher. 

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