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Ferdinand von Schirachs neues Buch "Jeder Mensch"

Ferdinand von Schirach erklärt die bisher niedergelegten Grundrechte als mangelhaft. In seinem neuen Buch "Jeder Mensch" formuliert er neue Regeln, die seiner Meinung nach als Grundrechte gelten sollten.
Unterzeichnung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung
Foto: Imago Images | Die Unterzeichnung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung hat für Ferdinand von Schirach neben der französischen Erklärung der Menschenrechte Vorbildcharakter für seine Ideen zum Menschenrecht.

Wir, die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, erachten die nachfolgenden Grundrechte, in Ergänzung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und der Verfassungen ihrer Mitgliedsstaaten, als selbstverständlich …“ Mit diesen Worten lässt Ferdinand von Schirach seine Erklärung sechs neuer europäischer Grundrechte beginnen, die im Zentrum seines Büchleins „Jeder Mensch“ stehen und durch die nach dem Willen einer gleichnamigen Online-Petition ein Verfassungskonvent die Charta der Grundrechte der Europäischen Union um folgende Grundrechte erweitern soll.

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Was ist eine "gesunde und geschützte Umwelt"?

Die sechs Artikel reagieren auf die drängendsten Herausforderungen, die sich aus der gegenwärtigen ökologischen Krise, der Digitalisierung, den Phänomenen des postfaktischen Zeitalters sowie der Globalisierung ergeben. Artikel 1 postuliert das Recht, „in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben“, Artikel 2 dasjenige auf „digitale Selbstbestimmung“ sowie ein Verbot der „Ausforschung oder Manipulation von Menschen“. Artikel 3 fokussiert den Umgang mit Künstlicher Intelligenz: „Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.“ Gemäß Artikel 4 hat jeder Mensch das Recht, „dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen“.

Mit Blick die Globalisierung erklärt Artikel 5: „Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.“ Technischer Natur ist zuletzt der sechste Artikel, der die Möglichkeit einer „Grundrechtsklage vor den Europäischen Gerichten“ eröffnet.

Die Europäische Union bleibt zurück

Die Hinführung zu dieser Erklärung stellt ein Rückblick auf die Entstehung und Wirkung der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von 1776 sowie der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 dar, die für von Schirachs Erklärung Vorbildcharakter haben.

Im Zentrum des historischen Abrisses steht Marie-Joseph Motier, Marquis de La Fayette, der an der Seite George Washingtons im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatte, bevor er schließlich – unterstützt von Thomas Jefferson – in Paris den Entwurf für die Menschen- und Bürgerrechtserklärung verfasste. Die beiden neuzeitlichen Rechtstexte dienen dem Juristen von Schirach als Kontrast zur – von ihm als erweiterungsbedürftig erachteten – „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“: „Sie gibt, wenn man so will, den Geist der Verfassungen und des Rechts aller Länder der Europäischen Union wieder. Aber so brillant dieser Kompromiss auch ist – er hat nicht die Kraft der Erklärungen von 1776 und 1789.“

Im 18. Jahrhundert war der Handlungsdruck größer

Dass sich das rechtshistorische Heldenepos um den revolutionären Marquis ergreifend liest, erstaunt angesichts des schriftstellerischen Talents von Schirachs nicht. Vielmehr stellt sich die Frage, warum der Verfasser derart auf die Stärke des historischen Narrativs setzt und wie überzeugend diese Akzentuierung letztlich ist. Gewiss: Jeder, der über politischen, ökonomischen und ökologischen Sachverstand sowie eine solide sozialethische Grundorientierung verfügt, wird dem Anliegen und sachlichen Gehalt der von Schirachschen Grundrechtsergänzungen zustimmen. Ebenso wird, wer über historische Bildung verfügt, nicht die utopische Dimension und rechtshistorische Bedeutung der amerikanischen und französischen Deklarationen bestreiten wollen, die von Schirach betont.

 

Jedoch: Lag nicht die Kraft der historischen Erklärungen gerade darin, dass sie im Kontext konkreter politischer – und nicht zuletzt auch mit physischer Gewalt ausgetragener – Konfliktsituationen entstanden und sie von Menschen formuliert wurden, die einer anderen Gruppe greifbare individuelle Rechts abrangen. So wenig die Missstände, gegen die sich von Schirach richtet, zu leugnen sind und so honorig die Gesinnung seiner Unterstützer ist: Es fehlt der aus unmittelbarer lebensweltlicher Erfahrung erwachsene Handlungsdruck, der im 18. Jahrhundert zum revolutionären Aufbegehren führte. Damit bleibt von Schirachs Argumentation anachronistisch – und scheint letztlich auch eher familiengeschichtlich bedingt zu sein; so klärt (erst) eine persönliche Anmerkung im Anhang auf: „Der Urgroßvater meiner Urgroßmutter hieß John Middleton, er war einer der 56 Gründerväter der Vereinigten Staaten, die 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung unterschrieben. Sein Schwager, Edward Rutledge, unterzeichnete diese Erklärung ebenfalls.“

„ Wäre es nicht präziser gewesen,
die Mehrheit der ethisch absolut begründeten Forderungen
als „Grundpflichten“
denn als ergänzende „Grundrechte“ zu formulieren?“

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Es ist bedauerlich, dass der Verfasser auf das – sehr persönlich motivierte – historische Narrativ setzt, statt seinen Entwurf vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Problemstellungen und der europäischen Rechtslage zu entfalten. Dies tut ausführlich ein von den Juristen Ulrich Karpenstein, Jens Kersten, Remo Klinger und Bijan Moini verfasster Kommentar, der auf der Internetseite des die Petition „Jeder Mensch“ betreibenden Vereins unentgeltlich zur Verfügung steht – und stattdessen als Bestandteil des Buches diesem deutlich Substanz hätte verleihen können.

Am Ende muss aber neben den Bedenken zur historischen Argumentation von Schirachs auch noch eine grundsätzlichere Rückfrage formuliert werden: Wäre es nicht präziser gewesen, die Mehrheit der ethisch absolut begründeten Forderungen als „Grundpflichten“ denn als ergänzende „Grundrechte“ zu formulieren? Bestünde ein wegweisender Beitrag zum Schutz der Umwelt nicht darin, diese zwar nicht als Rechtsträger zu konstruieren, ihre Bewahrung jedoch als Anspruch an den Menschen zu formulieren, der in Selbstzwecklichkeit der Natur und nicht des Menschen begründet liegt?

Sorgfaltspflicht der Menschen

Noch problematischer ist in dieser Hinsicht, dass Artikel 5 europäische Konsumenten, nicht aber außereuropäische Arbeitskräfte als Rechtsträger behandelt. Ebenso sollte der Grundsatz, dass „wesentliche Entscheidungen … ein Mensch treffen“ muss, nicht nur als Recht, sondern mindestens gleichermaßen als allgemeine Sorgfaltspflicht des Menschen verstanden werden, wenn Digitalisierung tatsächlich menschenfreundlich gestaltet werden soll. Ähnliches gilt für die Norm der Wahrheitsorientierung, welche wohl nur geringfügig den Gebrechen des postfaktischen Zeitalters wird abhelfen können, wenn sie nicht – idealiter – alle Diskursteilnehmer (innerhalb derer offizielle „Amtsträger“ ja nur eine Minderheit ausmachen) in die Pflicht nimmt.

Auch wenn eine Kodifizierung von Menschen- oder Bürgerpflichten – mit guten Gründen – problematischer und unwahrscheinlicher ist als eine Erweiterung bereits bestehender Grundrechte: Revolutionärer und provokanter wäre es gewesen, als öffentlicher Intellektueller mit Gleichgesinnten öffentlichkeitswirksam darauf aufmerksam zu machen, dass die Krisen der Gegenwart nur bestanden werden können, wenn sich der homo politicus nicht nur an seinen verbrieften Rechten, sondern auch seinen – zumindest moralischen – Pflichten ausrichtet.


Ferdinand von Schirach: Jeder Mensch. Luchterhand Literaturverlag, München 2021,
ISBN-13: 978-363087-671-9, 32 Seiten, EUR 5,-

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