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Was Paul Claudel im Fernen Osten gesehen hat

Ein Dichter hinterfragt das Abendland: Was Paul Claudel im Fernen Osten gesehen hat.
Lampions am Yasaka-Schrein in Kyoto mit Namen der Spender für den Schrein.
Foto: IMAGO / imagebroker | Paul Claudel sah die christliche Buchreligion mit einer Religion des Zeichens in Asien konfrontiert und meinte darin eine Relativierung des abendländischen Denkens sehen zu können.

Während in Deutschland Politiker mit Büchern scheitern, befördern sie im Nachbarland Frankreich Karrieren. „In Frankreich halten sich Politiker im Prinzip für Schriftsteller“, schreibt Bruno Le Maire, aktueller Wirtschafts- und Finanzminister im Roman „Absolute Musik“, einem der ein dutzend Bücher dieses Proust-Kenners, der in einem Internet-Eintrag zunächst als Essayist, dann als Politiker vorgestellt wird. Auch hohe Staatsdiener pflegen dort ihre literarischen Ambitionen, wie die Dichter-Diplomaten Saint-John Perse (Alexis Leger), immerhin Literatur-Nobelpreisträger, und der gleichfalls hochgeehrte Paul Claudel (1868–1955).

Die Beschäftigung mit dem Osten hat Claudel geprägt

Der in Deutschland einst vielgelesene Claudel hat ein breit angelegtes Werk vorgelegt, zu dem Dramen, Gedichte, Essays, Tagebücher ebenso gehören wie theologische Abhandlungen. Als Konsul und Diplomat tat er jahrzehntelang Dienst in China und Japan (weniger bekannt ist, dass er 1911 für zwei Jahre in Frankfurt am Main Generalkonsul war) und ließ sich prägen vom Fernen Osten. Die poetische Summe zog er im 1905/07 herausgekommenen Band „Connaissance de l'Est“, der nun, neu übersetzt und mit einem erhellenden Nachwort versehen, wieder herausgekommen ist. Die Gattung des Prosa-Gedichts, zu der das Werk zu zählen ist, hat es in Deutschland nicht leicht, trotz großer Protagonisten wie Hölderlin, Novalis, Heine oder George.

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Wer den Band öffnet, findet keine Reisereportage vor, nicht das übliche Diplomaten-Tagebuch mit Hervorhebung der eigenen Verdienste, aber eben auch keine Gedichte-Sammlung, vielmehr eine poetische Erdkunde jener beiden alten Staaten Asiens. Ein Stilmittel ist ihm die unverhoffte, der Spontanität folgenden Änderung des Geschehens, wenn er etwa lustlos den Weg zum Büro geht: „Bis die Begegnung mit drei Lastträgern, die jeder mit federndem Schritt unter dem Gewicht eines Doppelkrugs mit Wein einhergingen, meine Aufmerksamkeit anzog. Wie ein Hochzeitsgast lenkte ich meine Schritte entschlossen über diesen seit Langem aufgegebenen Weg in Richtung der Vorstadt.“ Die Konfrontation mit dem zum Beginn des letzten Jahrhunderts noch archaisch-fremden China ließ Claudel nicht unverändert, griff aber die Konstanten, zu denen nach einem Bekehrungs-Erlebnis im Knabenalter auch der katholische Glauben gehörte, nicht an. Respektvoll gegenüber dem konfuzianischen Ahnenkult, kann er doch seinen Spott gegenüber manchen Tempelbräuchen und -dienern nicht verhehlen. Übersetzer und Herausgeber Rainer G. Schmidt über die collagenhafte Technik Claudels: „Der Titel ,Connaissance de l'Est‘ spielt mit der Doppelstruktur von genetivus objectivus und subjectivus: ,Erkenntnis des Ostens‘ ist zum einen der gesammelte Erkenntnisschatz östlichen Denkens und Empfindens, zum anderen das Kennenlernen dieses Wissens durch Erfahrung oder Identifikation.“ Es ist wohl die ungewohnte Mischung aus dichterischer Empfindsamkeit und professionell-diplomatischer Distanz, die Claudels Buch zu einer intensiven Lektüre macht.

„Der eine gibt das von ihm redlich und scharf
ins Auge gefasste Schauspiel bis ins Einzelne wieder,
der andere enthüllt mit einem Blinzeln das Gesetz“

 

Natürlich werden dem Leser auch Details vermittelt, die jenseits einer poetischen Weltsicht Wissen vermitteln, so wenn der Dichter den Unterschied zwischen Japan und China an der Architektur festmacht: „Es ist nicht, wie in der chinesischen Architektur, der Baldachin das Grundelement – die auf den Pfosten des Hirtenzelts errichteten Flächen – gibt doch in Japan das Dach, aus Ziegeln oder – ebenso kräftig und so leicht – aus Rinde gleich einem dicken Filz, an seinen Winkeln nur eine schwache Biegung zu erkennen; es ist, in seiner eleganten Kraft, nur der Deckel, und das ganze Bauwerk hier entwickelt sich aus der Idee der Schachtel.“ Auch findet der Franzose ein maritimes Element, das dem Japanischen eigen sei: „Die Gewohnheit, sich bis zu den Lenden aufzuschürzen, die niedrigen Kojen, die auf unsicherem Boden seine Bleibe sind, die handliche Vielfalt kleiner Gegenstände und ihr sorgfältiges Verstauen, das Fehlen von Möbeln, verrät das nicht wiederum das enge Leben des Matrosen auf seiner heiklen Planke? Und diese Holzhäuser hier sind nichts anderes als das Kompasshaus der Galeere.“

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Diplomaten sollen genaue Beobachter sein, doch Claudel ist weit mehr: Das Faktische ist ihm Wasserzeichen einer anderen Wirklichkeit. „Dort oben vor dem goldenen Buddha im Laub wird durch das Abbrennen einer kleinen Kerze und auf dem Grund dieser Schlucht durch den Abfluss einer dreifachen Quelle die Zeit gemessen.“ Claudel ist der Spaziergänger, der die Phänomene gewichtet und in ein Gesamtbild einordnet, zu dem für den Franzosen ganz selbstverständlich auch die überzeitliche Ebene gehört: „Der europäische Künstler kopiert die Natur gemäß einer Empfindung, die er dabei hat, der Japaner ahmt sie gemäß der von ihm geborgten Mittel nach; der eine bringt sich zum Ausdruck, der andere sie; der eine erarbeitet, der andere stellt dar; der eine malt, der andere komponiert; der eine ist ein Lehrender, der andere in gewisser Weise ein Meister; der eine gibt das von ihm redlich und scharf ins Auge gefasste Schauspiel bis ins Einzelne wieder, der andere enthüllt mit einem Blinzeln das Gesetz und wendet es in seiner freien Phantasie mit biblischer Bündigkeit an.“

Das abendländische Denken wird hinterfragt

Für Rainer G. Schmidt hatte Claudel ein „etwas schwankendes Interesse“ an Buddhismus und Daoismus, an der Vorstellung der Leere als Ausgangspunkt der Erkenntnis: „Claudels Katholizismus spielt zwar mit biblischen Themen hinein, ist aber noch nicht schmiedeeisern genug, um andere spirituelle Modelle nicht überprüfen, durchspielen und durchdenken zu können. So werden die Buchreligionen mit einer Religion des Zeichens (Religion du Signe) konfrontiert“, anders gesagt: der Wille, das abendländische Denken zu hinterfragen, bricht sich Bahn. Wie Paul Claudel das in diesem Buch macht, jener dynamische Wechsel von Meer, Fluss, Landeindrücken, Gärten, das Nebeneinander von Reflexionen, Gesängen und Fabeln, rasender Bewegung und wieder produktiver Leere, den er kreiert, zeigt, wie der Abendländler sich den Osten literarisch angeeignet hat, macht dieses Tableau der asiatischen Welt zur fordernden Erkenntnis vermittelnden Lektüre. Als Paul Claudel 1955 starb, fand er nach dem Staatsbegräbnis in Notre Dame und der Beisetzung im Park des von ihm erworbenen Schlosses in Brangues in Isere im Südosten des Landes seine letzte Ruhe neben einem japanischen Garten, den der Dichter hatte anlegen lassen.


Paul Claudel: Was der Osten ist. Prosagedichte;
übertragen und mit einem Nachwort versehen von Rainer G. Schmidt.

Verlag Matthes & Seitz, Berlin, 2021, 222 Seiten, ISBN 978-3-95757-693-4, EUR 28,–

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