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Herzog von Reichstadt: Zuerst nahm man ihm den Namen

Angst vor dem "weltgeschichtlichen Kind": Eine Biographie zeigt einfühlsam das schwierige Leben von Napoleons Sohn.
Herzog von Reichstadt, Napoleons Sohn
Foto: IN | Stand überall im Weg: Napoleons Sohn, Herzog von Reichstadt.

Ein „ungelebtes Leben“ nennt der Historiker und Journalist Günter Müchler sein Lebensbild von Napoleons Sohn, dem Herzog von Reichstadt. Nun hat er aber doch gelebt, jener Napoleon Franz etc. etc., Sohn des Kaisers und der Wiener Erzherzogin Marie Louise, der zweiten Frau des Korsen. Nur 21 Jahre währte dieses unglückliche, unter ständiger Beobachtung stehende und komplett von außen dirigierte Leben eines jungen Mannes, der das Pech hatte, den Kaiser der Franzosen zum Vater zu haben.

Sehr anschaulich beschreibt Müchler, der sich bereits mit Vater Napoleon und dessen Weg nach Waterloo beschäftigt hat, wie das „Kind des Mannes“, wie man ihn halb ehrfurchtsvoll, halb erschauernd nannte, vom ersten bis zum letzten Tag seiner Existenz ein Spielball von Mächten war, gegen die er nicht ankam und gegen die er doch immer wieder hilflos anrannte.

Seine Geburt war ein hochpolitischer Akt

Schon seine Geburt war ein hochpolitischer Akt und verdankte sich dynastischen Überlegungen. 1796 hatte Napoleon Joséphine Beauharnais geheiratet, zunächst nur standesamtlich, 1804 – kurz vor der Krönung Napoleons, zu der Papst Paul VI. angereist war – auch kirchlich. Der Hofklatsch sah damals schon in der kinderlos gebliebenen Ehe eine Gefahr für das sich nun wieder als Monarchie präsentierende Frankreich. Dies war Napoleon – Spross einer kinderreichen Großfamilie – sehr wohl bewusst. Müchler berichtet von einer Sitzung des um einige Vertraute erweiterten bonapartischen Familienrates unmittelbar nach der Scheidung vom Joséphine 1810 (der ersten nach dem neuen Gesetzbuch Code Civil), bei der Marie Louise, älteste Tochter des österreichischen Kaisers Franz, ebenso zur Wahl als neue Frau und Kaiserin stand wie Anna, Schwester des Zaren Alexander. Die kirchliche Ehe mit der bis dato-Gattin war mit einem mehr als gewagten Manöver – ein angeblicher Formfehler bei der Ziviltrauung – kurz zuvor aufgelöst worden.

Als ob es die Revolution und die Abschaffung der Monarchie in Frankreich nicht gegeben hätte, wurde nun munter über die Köpfe maßgeblicher Beteiligter hinweg eine alleine dem Staatsinteresse dienende neue eheliche Verbindung eingefädelt, die den Aufsteiger Napoleon mit den seit jeher regierenden Familien Europas in Verbindung bringen sollte. Ein Schachzug, zu dem Österreich – zu diesem Zeitpunkt ein schwer geschlagener Staat – allerdings sein Einverständnis gab. Die junge Marie Louise hatte als Kind gelernt, im korsischen Emporkömmling so etwas wie den Gott-sei-bei-uns der Weltpolitik zu sehen. An einer Puppe, die ihn darstellen sollte, reagierte sie ihren Zorn auf den Mann ab, der ihren Vater so oft gedemütigt hatte. Die Großmutter der neuen Braut, Maria Karolina, gewesene Königin von Sizilien, bekreuzigte sich, als sie von der bevorstehenden Hochzeit hörte und rief: „Das hat mir gerade noch gefehlt, dass ich jetzt noch des Teufels Großmutter werde!“ Allein, die Staatsraison hatte Vorrang und Marie Louise fügte sich.

Doch lernte sie, halb so alt wie der Bräutigam, ihren Mann auch lieben, so wie dieser ganz entzückt war von der Kind-Frau. Dem Innenminister Savary vertraute er an: „Mein Lieber, heiraten Sie eine Deutsche. Sie sind die besten Frauen der Welt! Süß, gut, naiv und frisch wie die Rosen.“ Marie Louise berichtete dem Vater nach dem ersten Rendezvous: „Ich finde, dass er sehr gewinnt, wenn man ihn näher kennt. Er hat etwas Einnehmendes und Zuvorkommendes, dem man unmöglich widerstehen kann.“ Gerade als der viel beschäftigte Kaiser seiner jungen Frau sich durch die Amtsgeschäfte zu entwinden scheint, kann sie ihn durch die Nachricht wieder an ihn fesseln, auf die alle gewartet haben: Ein paar Monate nach der Hochzeit ist sie schwanger, im März 1811 kommt der langersehnte Thronfolger im Tuilerien-Schloss zur Welt, seine Taufnamen Napoleon Franz Joseph Karl erinnern an beide Familien. Ein neuer Sektor des Hofes, die „Maison des Enfants des France“, wird gegründet, und über das „Kind Frankreichs“ soll die aus alter Familie stammende Gräfin Montesquieu wachen, der Napoleon einschärft: „Ich vertraue Ihnen das Schicksal Frankreichs an. Machen Sie aus meinem Sohn einen guten Franzosen und einen guten Christen.“

Die Verliebtheit der Eltern, die Freude des ganzen Landes über die Geburt des Thronfolgers (der den größenwahnsinnigen Titel eines Königs von Rom erhält), zu der die Erleichterung Österreichs hinzutritt, das sich nun vor zukünftigen Überfällen Frankreichs sicher fühlt – das ist schon das Beste, was man vom Leben des zu einem außergewöhnlich schönen Knaben Heranwachsenden sagen kann. Es wird ihm alles genommen werden in den kommenden Jahren, sein Name zunächst.

Der Junge sollte deutsch denken und sprechen

Kaum war es 1814 vorbei mit der napoleonischen Herrlichkeit, wird er umbenannt zum Prinzen von Parma – abgeleitet von seiner Mutter, der der Vertrag von Fontainebleau im gleichen Jahr das Herzogtum als „Ersatz“ für die Existenz als Kaiserin zugesprochen hatte – bis zum Abenteuer der „hundert Tage“, als Napoleon von Elba zurückkam, um seinen Thron wiederzuerobern. Der Vierjährige wurde erneut zum „Prince imperial“, gar kurzfristig zu Napoleon II., nachdem der Vater am 22. April 1815 endgültig auf Frankreich verzichten musste. Doch all' diese Titel und Proklamationen waren nichts mehr wert, denn in Paris saß schon seit Juli 1815 wieder ein Bourbone auf dem Thron. Die von Österreichs Staatskanzler Metternich – mit klarer Billigung von Kaiser Franz – eingefädelte Ehe mit dem nun aus dem Spiel ausgeschiedenen korsischen General begann für Wien peinlich zu werden, der daraus hervorgegangene gestern noch bejubelte Sohn zum Problem.

Der zunächst nach Wien heimgekehrten Kaiser-Tochter und -Frau, die nun nicht mehr als Kaiserin bekannt sein sollte, stellte man ein Appartement in Schönbrunn zur Verfügung; für den Sohn dachten sich Metternichs Mitarbeiter ein Umerziehungs-Programm aus. Zunächst wird der Erbanspruch auf Parma gestrichen. „Es ist die Angst vor dem ,weltgeschichtlichen Kind‘, dem Kind mit dem elektrisierenden Namen, die ihr Handeln bestimmt“ (Müchler). So darf auch der erste Vornamen nicht mehr benutzt werden; als Nachname bekommt er schließlich 1818 vom Großvater den neu ersonnenen Titel eines Herzogs von Reichstadt verliehen, nach einer unbedeutenden böhmischen Kleinstadt. Herzog Franz, wie er nun hieß, sollte niemals dorthin kommen. Er soll nur noch deutsch sprechen und, vor allem, deutsch denken, jede Erinnerung daran, dass er als kaiserlich-französischer Prinz geboren wurde, dass es in der fernen Heimat immer noch viele gibt, die in ihm einen möglichen Herrscher über Frankreich sehen, will man ihm austreiben. Der Großvater, der ihm durchaus Zuneigung zollt, und die Mutter, die ein eigenständiges Leben in Parma führen will, machen bei diesem rein politisch motivierten Spiel des Staatskanzlers mit. Die tiefe Verwirrung des Knaben, die in Wut- und Trotzattacken zum Ausdruck kommt, findet Autor Müchler nachvollziehbar: „Das fremde Land, wo die Menschen eine Sprache sprechen, die er nicht versteht, wo er angegafft wird wie ein Wundertier...: Wer ist er. Und wo gehört er hin?“ Die Verwüstungen in der kindlichen Seele – der Knabe ahnt ja gar nicht, dass seine Mutter mittlerweile eine Affaire mit dem Grafen Neipperg begonnen hat, der auch Kinder entsprießen – kommentiert der feinfühlige Erzherzog Johann: „Der Kleine schon höchst trotzig, unbiegsam, schlimm..., es ist ganz des Vaters Blick.“ Der Heranwachsende, der sich allmählich in Österreich einfindet, spürt, dass er den Vater niemals mehr treffen wird; die Mutter, die ihn vor ihrer Abreise nach Parma wie ein lästiges Möbelstück beim Großvater deponiert hatte, eilt erst wieder zum Sterbelager des Sohnes, und selbst dann kommt sie sehr spät. Eine nicht erkannte Tuberkulose beendet das Leben des Aiglon (des kleinen Adlers, so wie sein Vater der große war) gerade in dem Alter, als er anfing, als österreichischer Offizier Fuß zu fassen und sich in der Wiener Gesellschaft umzuschauen. Wie schrecklich das kühle Zitat eines Zeitgenossen: „Er hat gut daran getan zu sterben. Seine Position in Europa war zu schwierig. Er hätte seinen Platz nicht gefunden, ohne alles durcheinanderzubringen.“

Günter Müchler erzählt auch vom bizarren Nachspiel, als der tonnenschwere Sarkophag 1940 auf Geheiß Hitlers aus der Wiener Kapuzinergruft in einer Nacht- und Nebel-Aktion nach Paris zum Vater in den Invalidendom gebracht wird, im vergeblichen Bemühen, mit dieser Geste die Gunst des okkupierten Frankreichs zu gewinnen. Freilich, sein Herz und seine Eingeweide, nach Habsburger-Brauch dem Toten entnommen, blieben in Wien. Doch wo hat der Aiglon Heimat gefunden?

Günter Müchler: Napoleons Sohn. Biographie eines ungelebten Lebens. Theiss Verlag – WBG, Darmstadt, 2017, 365 Seiten, ISBN 978-3-8062-3487-9, EUR 19,99

Themen & Autoren
Urs Buhlmann Napoleon Papst Paul VI.

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