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Russell Kirk - Verbunden mit dem Ursprung

Er kämpfte gegen die Dogmen des Zeitgeistes in Politik, Literatur und Gesellschaft. Mit "The Conservative Mind" schuf er das Gründungsdokument der konservativen Bewegung: Der Philosoph und Konvertit Russell Kirk.
Der Philosoph Russell Kirk
Foto: Wiki | Beeinflusst von Kardinal Newman: Russell Kirk (1918-1994).

Der Konservatismus in den USA gibt seit geraumer Zeit in der deutschen Berichterstattung ein wenig attraktives Bild ab. Zahlreiche deutsche Kommentatoren zeichnen den typischen amerikanischen Konservativen – sofern es diesen überhaupt gibt – als halbgebildeten und rückständigen Hinterwäldler, der für eine radikalkapitalistische Wirtschaftsordnung, unbeschränkten Waffenbesitz, ein hochgerüstetes Militär und eine interventionistische Außenpolitik einsteht. Wenn er sich auch noch gegen Abtreibung stark macht, gilt dies oft als zusätzlicher Ausweis grauenhafter Rückständigkeit.

Dass es sich hierbei allenfalls um ein Zerrbild der Wirklichkeit handelt, in dem sich viele Zeitgenossen bequem eingerichtet haben, da es ihre Vorurteile zu bestätigen scheint, dürfte nur den Wenigsten bewusst ein. Dieses Bild wurde paradoxerweise nicht zuletzt in den USA selbst popularisiert. Der liberale Historiker Clinton Rossitter bestreitet in seiner Studie „Conservatism: The Thankless Persuasion“ rundweg, dass der Konservatismus in den USA überhaupt eine Tradition habe, da die amerikanische Republik auf liberalen Prinzipien begründet worden sei.

Gründungsdokument der konservativen Bewegung

Das Verdienst, diese Sichtweise nachdrücklich widerlegt zu haben, gebührt zweifellos Russell Kirk (1918-1994), der es als junger Mann unternahm, die mittlerweile fast vergessenen Persönlichkeiten, Themen und Konturen des anglo-amerikanischen Konservatismus dem Vergessen zu entreißen und ihnen zu neuer intellektueller Respektabilität zu verhelfen. Seine Studie „The Conservative Mind: from Burke to Santayana“ (in späteren Ausgaben im Untertitel zu T. S. Eliot erweitert), eine an der schottischen Universität St. Andrews verfasste Doktorarbeit, wurde ab 1953 zu einem durchschlagenden Erfolg und quasi zum Gründungsdokument der konservativen Bewegung in den USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

In einer beeindruckenden und elegant formulierten Gesamtschau zeigt Kirk auf, dass die Ideengeschichte Nordamerikas deutlich von konservativen Grundhaltungen in Politik, Gesellschaft und Religion geprägt war, die bis in die jüngere Vergangenheit nachwirkten und den öffentlichen Diskurs der USA in vielen Bereichen nachhaltig beeinflussten. Unterschwellig im Alltagsleben und -empfinden vieler Amerikaner präsent, geriet diese Tradition jedoch allmählich in Vergessenheit, bis sie schließlich ab den 1930er und 1940er Jahren, nicht zuletzt auch durch die Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise mit ihren tragischen sozialen Verwerfungen und den sozialen und wirtschaftlichen Reformprogrammen von Roosevelts „New Deal“, immer mehr in Vergessenheit geriet und vom Liberalismus als dominantes politisches Paradigma abgelöst wurde.

Kirk geht es darum, nicht nur die Ehrwürdigkeit, sondern auch die Lebendigkeit der konservativen Tradition als notwendigen Gegenentwurf zu Auswüchsen des Liberalismus in einer Zeit aufzuzeigen, in dem konservatives Denken praktisch als desavouiert galt. Dabei bietet er keine Anweisung für konkretes politisches Handeln oder gibt programmatische Maximen ab; sein Erkenntnisinteresse gilt der Vielfalt und geistigen Durchdringung konservativen Denkens.

Anschlussfähig auch für deutsche Leser

Es wäre jedoch verfehlt, Kirk die weniger attraktiven Erscheinungsformen des amerikanischen Konservatismus der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart anzulasten. Kirks vorgelegte Definition ähnelt eher einer Geistes- und Lebenshaltung, die dem Wesen des Menschen und seinem ontologischen Status zutiefst entspricht. Dies macht ihn auch aus katholischer Sicht zu einem geistesverwandten Denker, der gerade in der heutigen krisenhaften Situation von Kirche und Gesellschaft auch für deutsche Leser anschlussfähig ist. Zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung fand das Buch großen Anklang auf beiden Seiten des Atlantik, auch in Deutschland, wo es von Golo Mann und Wilhelm Röpke positiv besprochen wurde. Als Übersetzung ist es hier unter dem Titel „Lebendiges politisches Erbe“ verfügbar.

Kirks Biographie selbst spiegelt den Prozess des Suchens und der schrittweisen Aneignung der konservativen Tradition, als deren Repräsentant er auch von Außenstehenden immer mehr angesehen wurde. Geboren im Jahre 1918 im Detroiter Vorort Plymouth als Sohn eines Eisenbahningenieurs, verbrachte er seine Jugend im Kreis seiner Familie vorwiegend im ländlichen Mecosta im Bundesstaat Michigan, wo er bis zu seinem Tode 1994 lebte.

Früh dem Lesen zugeneigt, entwickelte er schon in jungen Jahren einen für seine Altersgruppe eher untypischen Lesehunger, darin nachhaltig unterstützt von seinem Großvater Franklin Pierce, der ihm gerne seine Privatbibliothek mit Werken aus Geschichte und Belletristik zur Verfügung stellte. In seiner Autobiographie „The Sword of Imagination“ (posthum 1995 erschienen) und auch in zahlreichen Aufsätzen hat Kirk immer wieder bekannt, wie prägend sein Großvater und die in seinem Hause verbrachten Stunden für sein weiteres Leben waren. Nach der Schulzeit immatrikulierte er sich am Michigan State College (heute Universität), wo er 1940 einen Bachelor-Grad in Geschichte erhielt.

Für weiterführende Studien qualifiziert, folgte 1941 ein Magister-Grad, ebenfalls in Geschichte, an der Duke University. Sein ungewöhnliches intellektuelles Potenzial entfaltete sich zunächst in einer von der Fachwelt freundlich aufgenommenen Studie über John Randolph of Roanoake, einem konservativen Staatsmann aus Virginia; sie gehört bis heute zur Standardliteratur konservativen Denkens in den USA.

Vom Soldaten zum Gelehrten

Nach dem (vorläufigen) Abschluss seines Studiums arbeitete er für kurze Zeit für den Ford-Konzern. Im Krieg diente er als Stabsoffizier einer Einheit der Chemical Warfare Division in der Wüste von Utah. Doch das Gelehrtenleben ließ ihn nicht los, und so entschied er sich nach seiner aktiven Dienstzeit für die Universitätslaufbahn; an seiner Heimatuniversität von Michigan nahm er eine Stelle als Geschichtsdozent an. 1946 schließlich brach er für einen mehrjährigen Forschungsaufenthalt nach Schottland auf, um sein Hauptwerk über die Geschichte konservativen Denkens, „The Conservative Mind“, zu verfassen; es wurde 1952 veröffentlicht, ein Jahr später auch in den USA.

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Die Qualität seiner Forschung und die Eleganz ihrer Darstellung brachten ihm den ranghöchsten Titel für Geisteswissenschaftler, den „Doctor of Letters“ ein. Bis heute ist Kirk der einzige Amerikaner in den Annalen von St. Andrews, dem dieser noch aus dem Mittelalter stammende Titel verliehen wurde. In der angelsächsischen Welt hat das Werk bis heute sieben Auflagen erlebt.

Das Hauptverdienst des Buches besteht darin, die komplexe Gesamtthematik und den individuellen Beitrag der besprochenen Repräsentanten in die Form eines Katalogs durchgängiger Prinzipien gebracht zu haben, die selbst bei der Vielfalt der Ansätze Gemeinsamkeiten herausstellt. Ausgangs- und Referenzpunkt ist dabei selbstverständlich der Vater des Konservatismus, Edmund Burke.

Eine hauptsächliche Gemeinsamkeit besteht für Kirk demnach in einer Verehrung für die „immerwährenden Dinge“ (permanent things), also unverrückbare religiöse Prinzipien, ethische Normen und moralische Werte. Der Konservative sucht die Bewahrung traditioneller Ordnungsmuster. Eine rein materialistische Sicht auf die Welt und die menschliche Existenz ist ihm fremd. Angesichts einer gefallenen Menschennatur macht er sich keine Illusionen über die Möglichkeit, utopische Gesellschaftsentwürfe zu ermöglichen; hingegen lehrt die historische Erfahrung, dass solche Experimente grausam scheitern.

Sechs Prinzipien für das konservative Denken

Kirk setzt auf die Kraft der historisch gewachsenen menschlichen und kulturellen Erfahrung – der Tradition – um notwendigen Wandel behutsam und menschlich zu gestalten. Er definiert insgesamt sechs Prinzipien, die bei aller graduellen Verschiedenheit konservativen Denkens konsensfähig sein können:

Erstens: Das Vorhandensein einer transzendenten Schöpfungsordnung, ausgedrückt im Naturrecht als Grundlage einer wohlverfassten gesellschaftlichen Ordnung und des Gewissens;

Zweitens: Eine Haltung der Ehrfurcht gegenüber dem Mysterium der menschlichen Existenz in seinen unterschiedlichen Ausprägungen;

Drittens: Die Vorstellung einer organisch gewachsenen Gesellschaft im Gegensatz zu rigoros geplanten Gesellschaftsentwürfen;

Viertens: Eine Überzeugung der Untrennbarkeit von Freiheit und Privatbesitz;

Fünftens: Der Glaube an das durch Traditionen gewachsene Bewusstsein einer Gesellschaft;

Sechstens: Die langfristige und behutsame Gestaltung notwendigen Wandels anstelle überstürzter Reformen.

Aus katholischer Sicht ist die von Kirk hervorgehobene transzendente Dimension des Konservatismus von besonderem Interesse. Hier sind es insbesondere Edmund Burke und der ebenfalls vorgestellte selige John Henry Kardinal Newman (der demnächst heiliggesprochen werden wird), deren Denken in dieser Hinsicht besonders relevant ist. Burkes Gesellschaftsbegriff beruht auf dem Grundgedanken einer auf christlichen Werten gegründeten Gemeinschaft, in der sich der Mensch in seiner individuellen und gesellschaftlichen Existenz der Verwiesenheit auf Gott bewusst bleibt.

Indirekt spiegelt Burke hier Auffassungen wider, die sich bereits in den Schriften antiker Philosophie, den Kirchenvätern und anglikanischen Theologen finden. Nur einem religiös begründeten Staat gegenüber kann der Mensch das Maß an Ehrfurcht empfinden, dessen es zur Identifikation mit der Gesellschaft und zur Erhaltung des Staates bedarf. Staatliche Autorität muss sich stets bewusst bleiben, dass ihre Macht geliehen ist und Verantwortung vor einem letzten Richter verlangt.

Der Mensch braucht ethische Wahrnehmungsfähigkeit

Ein gesundes Staatswesen bedarf jedoch nicht nur der äußeren, sondern auch einer inneren Anlage zur Transzendenz im Einzelnen selbst, die den Menschen in die Lage versetzt, die „immerwährenden Dinge“ intuitiv zu erfassen, sie in einen inneren Sinnzusammenhang zu integrieren, somit eine Ordnung der Seele zu erwirken und das Leben danach auszurichten. Kirk verortet diese Fähigkeit des Menschen in Burkes Begriff der „moral imagination“, der moralischen Vorstellungskraft des Menschen.

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Diese bezeichnet eine ethische Wahrnehmungsfähigkeit, die über den Bereich der privaten Alltagserfahrung und Situationsgebundenheit hinausweist und den Menschen mit seinem transzendenten Ursprung verbindet. Geprägt durch religiöse, historische und kulturelle Traditionen, erwächst dem Menschen somit eine innere Ordnung, die sich insbesondere an den Tugenden orientiert und sich wiederum positiv auf Staat und Gesellschaft auswirkt, sodass sich die Ordnung der Seele und die Ordnung des Staates wechselseitig bedingen.

Es konnte nicht ausbleiben, dass ein Gelehrter, für den konservatives Denken eine geradezu mystische Dimension annahm, persönlich der Religion nicht fernbleiben konnte. Obwohl in einem religiös weitgehend indifferenten Umfeld aufgewachsen, nahm er doch Einstellungen und Verhaltensweisen durch seine Familie auf, die ihn später befähigten, offen für das Transzendente und die Religion zu werden. Als er 1964 anlässlich seiner Heirat mit Annette Courtemanche zum Katholizismus konvertierte, hatte er bereits einen langen inneren Weg zurückgelegt.

Von Konservativen besucht, von Eliten geschnitten

Sein Anwesen Piety Hill im ländlichen Michigan, ausgestattet mit einer umfangreichen Bibliothek, wurde im Laufe der Jahre Anlaufpunkt und Studienzentrum für Menschen aus aller Welt, die von seinem Hauptwerk und anderen Büchern beeinflusst worden waren, seine Zeitdiagnosen teilten und später in verantwortliche berufliche Positionen gelangten; sein gegenwärtig prominentester amerikanischer Schüler ist Rod Dreher („Die Benedikt-Option“). T. S. Eliot, dem er ein eigenes Buch widmete, war ihm Freund und Weggefährte, Journalisten und Schriftsteller wie den englischen Konvertiten Malcolm Muggeridge, den Schotten George Scott-Moncrieff und europäische Politiker wie Otto von Habsburg zählten zu seinen regelmäßigen Korrespondenten. Das politische, mediale und literarische Establishment der USA schnitt ihn, was er sich als Ehre anrechnete.

Kirk suchte nicht das Rampenlicht von Parteitagen, Talkshows und literarischen Cocktailparties; er bevorzugte die Gesellschaft von Leuten, die nicht dem Zeitgeist huldigten und gerade deshalb etwas zu sagen hatten. Gestützt durch eine umfassende geschichtliche, philosophische und literarische Bildung und nicht zuletzt gestützt von seinem Glauben, kämpfte er von seinem mit Büchern überladenen Schreibtisch, auf seine alte Schreibmaschine einhämmernd, gegen die Dogmen des Zeitgeistes in Politik, Literatur und Gesellschaft.

Kirks bleibendes Verdienst ist es, den Konservatismus von ideologischen Usurpationsversuchen wie etwa utilitaristischen und individualistischen Denkmustern befreit zu haben. An deren Stelle setzte er seine Definition des Konservatismus als dem Menschen zutiefst eingeschriebene Lebens- und Charakterhaltung, weil sie seiner Natur entspricht. Statt der Ideologie des „big business“ zeigte er, im Rückgriff auf Burke, Newman und andere Denker, die gemeinschaftliche und transzendente Dimension des Konservatismus auf, die den Menschen nicht nur befähigt, bereits in dieser Welt die Vereinzelung der Moderne zu überwinden, sondern auch seine ewige Bestimmung nicht aus dem Auge zu verlieren.

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