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Oswald Spengler - Der Bestauner

Oswald Spengler sah die Kulturen relativ. Beim Christentum nahm er zwei Formen wahr - das Magische und das Faustische.
Oswald Spengler, skizziert von Rudolf Großmann im "Simplicissimus" (1922).
Foto: wiki | Ganz entspannt: Oswald Spengler, skizziert von Rudolf Großmann im "Simplicissimus" (1922).

Oswald Spenglers Haltung zum Christentum im Besonderen und zum Phänomen der Transzendenz im Allgemeinen hat in der letzten Zeit nur wenig Beachtung gefunden: Spengler ist so sehr auf die einseitige Gestalt eines Propheten des „Untergangs des Abendlandes“ reduziert worden (er erklärte übrigens einmal, der Begriff sei als Synonym zu „Vollendung“ zu verstehen), dass seine eigentliche Leistung, nämlich Aufstieg und Fall aller menschlichen Hochkulturen von den Sumerern bis zum modernen Europa verglichen zu haben, meist nur untergeordnete Beachtung findet. Doch wenn alle Hochkulturen autonome, streng parallel aufgebaute Monaden sind, welche Stellung kommt dann kulturübergreifenden Phänomenen wie etwa den Religionen zu, allen voran dem Christentum?

Es war wohl mit seiner Antwort auf diese Frage, dass Spengler, von Hause aus übrigens Protestant und Zögling der pietistischen Francke'schen Stiftung, viele seiner Zeitgenossen am ärgsten vor den Kopf stieß: Auch im Bereich des Geisteslebens existiere Spengler zufolge keine wirkliche Kontinuität, denn zwischen den einzelnen Kulturen könne (bis auf einige rudimentäre Grundtechniken) keine wirkliche Kommunikation bestehen: „Man kann [...] alle Kulturen durchsuchen, man wird überall bestätigt finden, dass statt der scheinbaren Fortdauer der früheren Schöpfung in der späteren es immer das jüngere Wesen war, das eine ganz geringe Anzahl von Beziehungen zu älteren Wesen angeknüpft hat, und zwar ohne die ursprüngliche Bedeutung dessen zu beachten, was es damit für sich erwarb. [...] Es sollte wirklich einmal die Geschichte der ,drei Aristoteles‘ geschrieben werden, nämlich des griechischen, arabischen und gotischen, die nicht einen Begriff, nicht einen Gedanken gemein haben.“

Faustisch im Nordwesten, magisch im Südosten

Dies treffe auch auf das Christentum zu, das in Wirklichkeit zwei strikt voneinander geschiedene Ausprägungen kenne: Eine erste, welche in den Bereich der byzantinisch-arabischen oder „magischen“ Kultur falle, mit der Spengler den ostmittelmeerischen Raum im 1. Jahrtausend bezeichnet, und eine zweite, welche der abendländischen Kultur entspreche, die ihr Zentrum im Nordwesteuropa des 2. Jahrtausend habe. Die erste sei wesentlich dualistisch geprägt, die zweite ganz von „faustischem” Drang beseelt, wie es sich paradigmatisch am Vergleich der Höhlenstimmung der Moschee mit dem Raumstreben der gotischen Kathedrale zeige.

Die Konsequenzen dieser Überzeugung sind beachtlich: Zum einen sei es der Islam, nicht aber der europäische Katholizismus, der das Erbe des Urchristentums letztlich getreuer, da aus unmittelbarem inneren Verständnis heraus weiterentwickelt habe: „Alle Religionen der magischen Kultur von den Schöpfungen des Jesaja und Zarathustra bis zum Islam bilden eine vollkommene innere Einheit des Weltgefühls, und so wenig im Awestaglauben auch nur ein bramanischer Zug, im Urchristentum auch nur eine Spur antiken Gefühls zu finden ist, sondern nur Namen, Bilder und äußere Formen, so wenig hat das germanisch-katholische Christentum des Abendlandes auch nur einen Hauch vom Weltgefühl jener Jesusreligion herübernehmen können, als es deren ganzen Bestand an Sätzen und Bräuchen übernahm.“ Zum anderen müsse laut Spengler erkannt werden, dass das Denken und Fühlen des historischen Jesus den abendländischen Christen letztlich unzugänglich bleibe. So schreibt er über die „Märchenstimmung“ der arabischen Welt: „Wenn man ahnen will, wie fremd das Innenleben Jesu uns allen ist – eine schmerzliche Einsicht für den Christen des Abendlandes, der seine Frömmigkeit gern auch innerlich an ihn anknüpfen möchte – und wie es heute eigentlich nur von einem frommen Moslem nacherlebt werden kann, so versenke man sich in diese Märchenzüge eines Weltbildes, das auch das seinige war. Dann erst wird man erkennen, wie wenig das faustische Christentum aus dem Reichtum der pseudomorphen Kirche herübergenommen hat, nämlich nichts vom Weltgefühl, wenig von der inneren Form und viel an Begriffen und Gestalten.“ Eine Überlegung, die gerade heute hinsichtlich der neueren Forschung zum Ursprung des Islam als einer ursprünglich rein innerchristlichen Erneuerungsbewegung wahrhaft explosives Potenzial hat.

Vor Pilatus traten Wahrheit und Tatsachen gegenüber

Macht dies nun aber aus Spengler, dem Kulturrelativisten, gleichzeitig auch einen Atheisten? Nein, denn ganz im Gegenteil bemüht Spengler sich auf Grundlage seines komparatistischen Ansatzes, das Phänomen der Transzendenz als dem der bloßen Pragmatik gegenübergestellt zu begreifen und erst aus beider Zusammenstoß die Triebkraft der Geschichte zu entwickeln. Es ist daher wohl kein Zufall, dass gerade eine der Urszenen des Christentums, die Befragung Jesu durch Pilatus, zur Verdeutlichung herangezogen wird: „Als Jesus aber vor Pilatus geführt wurde, da traten sich die Welt der Tatsachen und die der Wahrheiten unvermittelt und unversöhnlich gegenüber, in so erschreckender Deutlichkeit und Wucht der Symbolik wie in keiner zweiten Szene der gesamten Weltgeschichte. (...) In der berühmten Frage des römischen Prokurators: Was ist Wahrheit? (...) liegt der ganze Sinn der Geschichte (...). Darauf hat nicht der Mund, aber das schweigende Gefühl Jesu mit der andern, über alles Religiöse entscheidenden Frage geantwortet: Was ist Wirklichkeit? Für Pilatus war sie alles, für ihn selbst nichts. Anders kann echte Religiosität der Geschichte und ihren Mächten niemals gegenüberstehen, anders darf sie das tätige Leben nie einschätzen, und wenn sie es dennoch tut, so hat sie aufgehört, Religion zu sein, und ist selbst dem Geist der Geschichte verfallen.“

Hieraus folgt freilich auch das immer größere, geradezu metaphysische Unvermögen des historischen Menschen, wahren Seelenfrieden zu erlangen, je mehr sein Empfinden von Zivilisation überlagert wird: Unmittelbare Gottesschau könne nur außerhalb des Phänomens der Kultur verwirklicht werden und wird von Spengler als „zweite“, da gewissermaßen posthistorische Religiosität bezeichnet. Und es ist wohl bezeichnend, dass Spengler jene Phase, wo die Religion des Abendlands fast vollständig den Mächten der Tagespolitik und somit der Beliebigkeit verfällt, sich am Horizont aber bereits der Wunsch nach einem neuen, den Mächten der Geschichte entzogenen Glauben abzeichnet, spekulativ ins 21. Jahrhundert verlegte.

Alles Vergängliche nur ein Gleichnis?

Daher zielt es wohl auch zu kurz, in Spengler einen verbitterten Apologeten von Technizität, Imperialismus und Expansion zu sehen, wie dies oft behauptet wird, zeigen Passagen wie die folgende doch sein tiefes Verlangen nach einer transzendenten Unbedingtheit, die freilich erst nach dem Zusammenbruch der abendländischen Geschichte erreicht werden könne, wie es einst auch nach dem Untergang Roms oder dem Niedergang des Islam nach dem Fall der Fatimiden geschehen sei: „Das zeitlose Dorf, der ,ewige‘ Bauer treten hervor, (...) ein emsiges, genügsames Gewimmel, über das der Sturm der Soldatenkaiser hinbraust. Mitten im Lande liegen die alten Weltstädte, leere Gehäuse einer erloschenen Seele, in die sich geschichtslose Menschheit langsam einnistet. (...) Massen werden zertreten in den Kämpfen der Eroberer um Macht und Beute dieser Welt, aber die Überlebenden füllen mit primitiver Fruchtbarkeit die Lücken und dulden weiter. Und während man in den Höhen siegt und unterliegt in ewigem Wechsel, betet man in der Tiefe, betet mit jener mächtigen Frömmigkeit der zweiten Religiosität, die alle Zweifel für immer überwunden hat. Da, in den Seelen, ist der Weltfriede Wirklichkeit geworden, der Friede Gottes, die Seligkeit greiser Mönche und Einsiedler, und da allein. Er hat jene Tiefe im Ertragen von Leid geweckt, welche der historische Mensch in dem Jahrtausend seiner Entfaltung nicht kennen lernt.“

Der Islam, nicht aber der Katholizismus,
habe das Erbe des Urchristentums treuer, da aus
unmittelbarem inneren Verständnis heraus weiterentwickelt.

Freilich folgt aus dieser schon fast utopischen Beschreibung kein Appell zu einer wie auch immer gearteten Umkehr: Ob mit oder gegen den Einzelnen, vollzieht sich das Schauspiel der Geschichte in seiner prädeterminierten Größe unerbittlich von Anfang bis Ende und findet seinen eigentlichen Sinn nicht erst in seinem Ausgang, sondern vielmehr in seiner Gesamtheit, weshalb Spengler seinem Werk auch das Faust-Zitat voranstellt, demzufolge alles Vergängliche nur ein Gleichnis sei. Daher fehlt Spengler, nachdem er die Relativität jeglicher Theologie aufgezeigt und die Hoffnung auf eine teleologische Entwicklung der Menschheit zerstört hat, jegliche Möglichkeit, eine heilsgeschichtliche Evolution anzunehmen, so dass er auch das Erscheinen und Vergehen der Transzendenz in der Religion lediglich beschreiben und unter die großen Tatsachen der Existenz einreihen, ihr aber jenseits seiner zutiefst von Schopenhauer geprägten vitalistischen Grundüberzeugung keinen personalen Sinn zuschreiben kann: „Erst mit dem Ende der großen Geschichte tritt das heilige, stille Wachsein wieder hervor. Es ist ein Schauspiel, das in seiner Zwecklosigkeit erhaben ist, zwecklos und erhaben wie der Gang der Gestirne, die Drehung der Erde, der Wechsel von Land und Meer, von Eis und Urwäldern auf ihr. Man mag es bewundern oder beweinen — aber es ist da.“

Und so bleibt Spengler, dem universalhistorischen Propheten, nur noch die Dimension des Beschreibens und Bewunderns, des „Beweinens“ und „Bestaunens“ übrig: Denn das eigentliche Mysterium des Höchsten, das immer nur unmittelbar und gewissermaßen naiv erlebbar ist, konnte sich ihm angesichts der verwirrenden Vielzahl der zusammengetragenen Weltdeutungen und der Betonung ihrer Relativität nur entziehen und indirekt in die Aporie bloßer Ästhetik verflüchtigen.

Dieser Artikel ist Teil der Literatur-Serie "Poeten, Priester & Propheten"

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