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Die Kriegstagebücher Ernst Jüngers

Eine Haltung, die den Tod bannt: Die Kriegstagebücher Ernst Jüngers gehören zu den wenigen literarischen Zeugnissen zum Ersten Weltkrieg.
Ernst Jünger, Schriftsteller
Foto: Frank Mächler (dpa)

Elly Heuss, die Ehefrau des ersten Bundespräsidenten, soll ihn einen „geheilten Sadisten“ genannt haben: Ernst Jünger (1895–1998) muss sich derartige Schmeicheleien gefallen lassen, weil er in der Wahrnehmung mancher lediglich als Verfertiger von „Kriegserlebnisbüchern“ gilt. Er, der in den beiden letzten Weltkriegen diente und wegen Tapferkeit ausgezeichnet wurde, ist wegen des kühlen Tons der Beobachtung – dem Forscher gleich, der das Objekt unter das Mikroskop spannt – vielen unheimlich. Woher seine Haltung kommt und woher auch seine stilistische Entwicklung hin zum Lakonisch-Präzisen herrührt, kann man der Lektüre der Kriegstagebücher 1914–1918 entnehmen, die einen Schriftsteller „in the making“ zeigen. Helmuth Kiesel, der Heidelberger Germanist und große Jünger-Kenner und Biograph, hat sie mustergültig ediert herausgegeben und damit eine Primärquelle zum Jahrhundert-Schriftsteller verfügbar gemacht.

Jünger war noch keine 20, als es zu Beginn des Jahres 1915 für ihn ernst wurde: „Dann pfiff es dreimal dicht über uns hinweg. Alles lachte und niemand lief, aber jeder senkte den Kopf. Wenige Augenblicke später wurden die ersten Getroffenen auf Zeltbahnen herangetragen. Der erste, den ich sah, war blutüberströmt und rief ein heiseres zu Hilfe, zu Hilfe. Dem zweiten hing das Bein lose am Schenkel.“

Nicht Schachfiguren der Machtpolitik sein wollen

Krieg ist nicht schön, Jünger sagt an keiner Stelle, dass er schön ist. Doch muss man sich zu ihm verhalten und auf dieser Ebene hatte der miserable Pennäler, dem der Kriegsausbruch gerade recht kam, der verhassten Schule zu entfliehen, den anderen etwas voraus. Er blieb ruhig, wenn sie in Panik gerieten, er schaute klar hin und konnte analytisch beschreiben, wo andere wegschauten und ins Stammeln gerieten. Kann es sein, dass ein Teil des Ressentiments gegen den Kriegs-Beschreiber Jünger schlicht Neid ist? Ein Neid, der sich an der bisweilen arroganten Lässigkeit, der echten Todesverachtung dieses den Krieg und sich selbst Beobachtenden entzündet.

Den großen Schriftsteller erlebt man hier noch nicht, aber dem Leser wird bei der Lektüre rasch klar, dass von diesem jungen Mann etwas zu erwarten sein wird – wenn er die Knochenmühle des bald zum Stellungskrieg versteinerten Ringens überleben wird. Jünger notiert, wie ein Freund nach dem anderen fällt. Der Erste Weltkrieg war, den Schützengräben zum Trotz, vielfach noch ein Kampf Mann gegen Mann. Dessen Darstellung wird viele heute, die wir den Krieg nicht kennen, verstören. Doch Jüngers Generation hatte dazu eine andere Einstellung. Je länger der Kampf dauerte, desto mehr galt Jüngers Beobachtung: „Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Tod ist klotzig, kaum haben die Sanitäter einen um die nächste Brustwehr geschafft, wird schon wieder gescherzt und gelacht.“

Wohl ist es verstörend, wenn der Autor an seinem 21. Geburtstag im März 1916 notiert: „Mir macht das Kriegsleben jetzt grade den richtigen Spaß, das ständige Spiel mit dem Leben hat einen hohen Reiz, wenn die allgemeine Lebensführung dabei einigermaßen günstig ist“, kurz: „Man lebt, man erlebt“. Nicht alle Soldaten werden so empfinden und so darüber sprechen können, doch ganz alleine in dieser Haltung wird Ernst Jünger auch nicht gewesen sein. Im übrigen, lernt man, gehörten auch gelegentliche Alkohol-Exzesse zum Alltag der Krieges.

„Wo ist sie geblieben, die behagliche Kultur des
Lebensgenusses, dies breit dahinfließende Leben (...) ? Dies
Dasein aufgebaut auf fröhlicher Bejahung des Lebens? Vorbei!“
Ernst Jünger über den Krieg in Frankreich

Was sich nicht findet dagegen ist Verhöhnung des Gegners oder irgendwelche Formen von nationalem Überlegenheitsgefühl. Dem französisch-sprechenden Jünger war jedes Gefühl der Superiorität über Frankreich ohnehin fremd, vielmehr bewunderte er das savoir-vivre des Landes, das der Krieg nun empfindlich störte: „Wo ist sie geblieben, die behagliche Kultur des Lebensgenusses, dies breit dahinfließende Leben, das mich in den kleinen Städten Frankreichs so an das Städtchen in ,Hermann und Dorothea‘ erinnerte. Dieser rote Wein und das runde, flockige Weißbrot und die köstlichen Ragouts der nordfranzösischen Küche, wo sind sie geblieben? Diese abendlichen Gesellschaften des Maires, des Pfarrers und der anderen Notabeln? Dies Dasein aufgebaut auf fröhlicher Bejahung des Lebens? Vorbei!“ Ernst Jünger sollte sein ganzes Leben ein Freund der französischen Zivilisation bleiben, umgekehrt wurde er nirgendwo mehr geschätzt als dort und ist im Nachbarland nach wie vor ein bekannter Name.

Mehr als einmal erzählt das Tagebuch auch von entspannten Begegnungen mit dem britischen Gegner, bis hin zu nächtlichen Unterhaltungen von Schützengraben zu Schützengraben und dem Austausch von Visitenkarten unter den Offizieren. So war der Erste Weltkrieg zugleich mörderische Materialschlacht und das vielleicht letzte Aufblitzen von Ritterlichkeit und Fair Play. Gelegentlich scheint es, dass zumal die Offiziere noch nicht ganz akzeptieren wollten, nur Schachfiguren der Machtpolitik zu sein, dagegen gleichsam anfeierten.

„Man muss sein Leben so toll und verschroben,
so lustig und gefahrvoll, so exzentrisch und abwechslungsreich
wie möglich einrichten, dann hat man Genuss davon“
Ernst Jünger über das Leben im Kriegsalltag

Doch ist es bei genauerer Betrachtung wirklich so überraschend, dass auch der Kriegsalltag Momente der Lebensfreude kannte? „Man muss sein Leben so toll und verschroben, so lustig und gefahrvoll, so exzentrisch und abwechslungsreich wie möglich einrichten, dann hat man Genuss davon.“

Für den lebenslang begeisterten Entomologen Jünger gehörte eben auch die „subtile Jagd“ nach Käfern dazu. Ihn, nach dem das Land Baden-Württemberg einen Preis für Insektenkunde benannt hat, hielt es nicht in der Schanze, wenn es eine ruhige Stunde gab: So wie er sich, komplett mit Zeichnungen, den idealen Insekten-Aufbewahrungsschrank für Friedenszeiten imaginierte, so lief er tatsächlich in Gefechtspausen mit dem Fächer herum und war überglücklich, ein Exemplar zu erbeuten, das er bisher nur aus der Literatur kannte.

Doch waren dies seltene Augenblicke in einem mit der Zeit immer zäher und schließlich hoffnungslos werdenden Ringen, über dessen Wirkung und Ausgang ein so klar denkender Mensch wie Jünger keinen Zweifel hatte. So wie er offen über den „verrohenden Einfluss des Krieges“ auf sich selber schreiben kann, so weiß er auch, was die Stunde geschlagen hat, spätestens als die USA im April 1917 in den Krieg eintraten, „mit dem Sportsgeist eines jungen Kriegers“. Immer stärker tritt nun in den Eintragungen zum Jahr 1918 das Erleben der Sinnlosigkeit hervor: „Diesmal gehe ich eigentlich mit dem Gefühl größter Wurstigkeit in den Kampf, gewissermaßen unbeteiligt an meinem eigenen Leben und Tod.“

Bemerkenswert reife Reflexionen finden sich ganz am Ende der Aufzeichnungen. Der junge Mann war immer noch ein junger Mann, aber innerlich ein anderer geworden: „Der Grad der Objektivität eines Menschen ist der Maßstab seines inneren Wertes. Absolute Objektivität ist unerreichbar.“ Und weiter: „Es ist merkwürdig, wie rasch sich die Eindrücke verwischen, wie leicht sie schon nach einigen Tagen eine andere Färbung annehmen.“ Zum Ziel seines Tagesbuches: „Ich bin kein Kriegsberichterstatter, ich lege keine Heldenkollektion vor. Ich will nicht beschreiben, wie es hätte sein können, sondern wie es war.“

Schlimmste Erfahrungen zeitnah festgehalten

Das hat er getan und so liest sich das neben Remarques „Im Westen nichts Neues“ wichtigste deutsche literarische Zeugnis zum Ersten Weltkrieg als Dokument der Auflösung der alten Ordnung, die den Krieg nicht überleben sollte, auch nicht auf Seiten der Sieger, wie in Großbritannien, wo es 1924 den ersten Labour-Premierminister gab. Jüngers Notizen, die das Rohmaterial für seinen 1920 erschienenen Erstling „In Stahlgewittern“ bildeten, sind zugleich vorzügliches Zeugnis für Jüngers schon früh sich herausbildende Fähigkeit, Erlebtes im Prozess der Literarisierung innerlich zu bearbeiten, es im nachblickenden Bedenken zu läutern und aphoristisch für andere nutzbar zu machen.

Herausgeber Kiesel ist sich sicher, dass Jünger zumindest in der zweiten Hälfte des Krieges bereits daran dachte, aus den Aufzeichnungen ein Buch zu machen, ja, dass er nun Schriftsteller werden wollte, der Krieg also als Kreativitäts-Katalysator. Damit war Jünger, wenn man auf Ernst Toller, Egon Erwin Kisch oder Hans Carossa schaut, keineswegs alleine. Die Kaltblütigkeit, die er im Leben zeigte, half ihm auch bei diesem Vorhaben, wie Helmuth Kiesel festhält: Jünger „blieb durchwegs in der Lage, auch noch die schlimmsten Destruktionserfahrungen zeitnah berichtend festzuhalten oder erzählerisch wiederzugeben“.

Die Form des Tagebuches war dafür besonders geeignet und wurde ja auch von anderen Kriegs-Autoren gewählt. Jünger – das fällt auf, aber das wollen seine Kritiker nicht glauben – erliegt nicht der Gefahr eines naiven Bellizismus oder nationalistischer Überhöhung, er behält den kühlen Blick des Naturwissenschaftlers, der, wohl auch, um sich selbst zu schützen, schlicht beschreibt, was er sieht. Man kann – und soll – seine Kriegstagebücher lesen, auch weil man keine ermüdende Ideologie befürchten muss. Ohne jedes Pathos wird hier getrachtet, der Geschichte Sinn abzugewinnen: Dokumente der Erlebnisverdichtung in höchster Bewusstheit, in stets großer Haltung.

Ernst Jünger: Kriegstagebücher 1914–1918,
hrsg. von Helmuth Kiesel. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart, 2019, 659 Seiten (mit Kommentar und Nachwort),
ISBN 978-3-608-98566-5, EUR 20.–

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