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Ritter dringend gesucht

Die islamische wie die chinesische Welt haben auf die Herausforderungen der Zeit klare Antworten. Dabei spielen auch Mythen eine Rolle. Die westliche Welt verliert ihre Kraft dagegen in der Zerredung des Eigenen. Wer wird künftig für das Christentum, seine Ideen und sein Erbe konsequent einstehen, die sich in der jüdisch-christlichen Zivilisation offenbaren?
Der Heilige Maurus, Schutzpatron der Soldaten und führender Offizier der Thebaischen Legion
Foto: imago-images | Der Legende nach stand die Thebaische Legion unter der Leitung ihres führenden Offiziers, des heiligen Maurus, fest zum christlichen Glauben. Sie lehnte Opfer an heidnische Götzen konsequent ab.

Polen wird zum Menetekel einer möglichen Zäsur. Als Bastion katholischer und konservativer Kräfte gerät das Land in den Sog eines linksliberalen Strudels, wie ihn sich die Regierung in Berlin nicht sehnlicher wünschen könnte. Die Missbrauchsskandale vor Ort zwingen die Kirche in eine solche Krise, dass katholische Medienanstalten in Deutschland sich bestärkt darin fühlen, öffentliche Angriffe gegen Johannes Paul II. zu reiten. Indes führt ein Präsidentschaftskandidat mit katholischem Etikett eine linkspuritanische Partei ins Weiße Haus. Nach Kennedy könnte er der zweite katholische Präsident sein, aber offensichtlich einer, den andere Katholiken nicht als solchen wahrnehmen. Die Mehrheit der US-Katholiken hat für Donald Trump gestimmt. Joe Biden war der Präsident der säkularen Wähler. Präsidenten der Demokraten sind üblicherweise dafür bekannt, nach der Wahl abtreibungsfreundliche Institutionen zu fördern. Die Neorenaissance der Linksradikalen flankierten Bilderstürmer und Anarchisten bereits im Sommer. 

Derweil meldet sich die islamische Nemesis in Nizza und anderswo zurück. Zwar hatte der Nizzaer Bürgermeister Christian Estrosi hellsichtig erkannt, dass es sich dabei um einen Anschlag auf die Christenheit als solche handelte, doch Stimmen wie die seine gingen angesichts der laizistischen Staatsidee unter. Ein Rezept hat Europa gegen seine älteste Herausforderung ebenso wenig wie 2004 oder 2015. Nicht die Stärke des Islam, sondern die Ohnmacht Europas erlaubt es, dass dieses auf importierten Tribalismus, demographische Herausforderungen und eine unbekannt gewordene rohe Gewalt keine Antwort weiß. Der Traum, durch wirtschaftliche Akkulturierung und Demokratisierung zu integrieren, hat sich bisher als Wunschdenken erwiesen. 

„Die wahre Herausforderung ist eine zivilisatorische“

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Dabei liegt die wahre Bedrohung des Abendlandes im Fernen Osten. Nicht allein Chinas wirtschaftliche und politische Kraft erscheint bedrohlich. Die Südeuropäer fürchten den Aufkauf ihrer maroden Firmen; die Bedrohungslage ist dort weitaus deutlicher als im Norden, wo man glücklich auf den Umsatz im Außenhandel verweist. Doch die wahre Herausforderung ist eine zivilisatorische: Das chinesische Reich hat eine zweitausendjährige Erfahrung. Die Elite hat den traditionellen Konfuzianismus mit seinem Ordnungs- und Harmoniedenken der neuen Zeit angepasst. Die staatskapitalistische Chimäre ist nicht nur für die europäische Wirtschaft ein Problem, sondern erweist sich immun gegen Demokratisierungsbemühungen. Der gelbe Imperialismus hat Afrika wie Südamerika erfasst und schielt auf einen Kontinent, der sich von Freunden umzingelt glaubt. Man behandelte das wiederauferstandene Reich wie ein Entwicklungsland, allerdings eines, das erst letzte Woche Australien ein 14-Punkte-Ultimatum ausstellte, nachdem es mit der RECP nur wenige Tage zuvor die größte Freihandelszone der Welt mit aus der Taufe gehoben hatte. 

Während der "äußere Feind" eine historische Konstante in der Begründung von Staaten und Staatengemeinschaften bildet, reagierte die Europäische Union nicht nur phlegmatisch, sondern geradezu unhistorisch. Die Erpressung Griechenlands durch die Türkei hätte ein klassisches Narrativ geboten: Die Türken wollten den ältesten Vorposten europäischer Kultur mit der Grenzöffnung erdrücken und Europa seine Regeln aufoktroyieren. Die klassische res publica christiana des Mittelalters und der Frühen Neuzeit hätte sich in solchen Situationen zu einer Liga zusammengefunden. Doch noch im Spätsommer, als Griechenland und Zypern neuerlich mit der Türkei aneinandergeraten und das christliche Armenien Opfer eines türkisch-aserbaidschanischen Komplotts wird   schweigen die Europäer. Ganz vorne die Deutschen, denen ihre Verbundenheit mit Erdogan wichtiger ist, als das Signal gemeinsamer Sanktionen gegen den historischen, ideologischen wie zivilisatorischen Gegner am Bosporus. 

Darin zeigt sich der mythische Mangel der Union. So sehr sie die Einheit des Kontinents beansprucht, so wenig kann sie diese vollenden, wenn sie sich nur als Erbin von Aufklärung und Französischer Revolution versteht, und damit ein rein jakobinisches Projekt bleibt, das sich an höheren menschlichen Werten orientiert, aber nicht an den Geboten und Überzeugungen transzendenter Herkunft. Sie kann damit a priori nicht den Kontrast zwischen Westen und Osten, zwischen progressiven Linksliberalen und traditionellen Konservativen überbrücken. Sie kennt keine Gegner und sie kennt keine Freunde, weil aus aufgeklärt-universeller Sicht kein Unterschied zwischen den Ländern besteht. Sie tappt mit hehren moralischen Ansprüchen voller Weltgeltung dem chinesischen Drachen entgegen, dessen Menschenrechtsverletzungen sie zwar geißelt, aber auf dessen zivilisatorische Herausforderung sie keine Antwort weiß. Letzteres ist ihr schon deswegen unmöglich, weil sie keinen zivilisatorischen Kontrast, der über die Plattitüde "unserer Werte" hinausgeht, erkennen will. 

Die Kunst der Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts bestand darin, die neu gewachsenen Ordnungen über Traditionen und historische Erinnerungen zu kitten. Brüssel dagegen kann sich nicht einmal zu einem Gottesbezug durchringen. Es war Papst Franziskus, der in der ersten Predigt seines Pontifikats an ein Wort von Léon Bloy erinnerte, das heute viel zu selten ausgesprochen wird: Wer nicht zum Herrn betet, betet zum Teufel. Der Säkularismus, der die europäische Seele zugunsten einer technokratisch-bürokratischen Administration erwürgt, ist zur unabdingbaren Norm Westeuropas und damit zum Wegbereiter destruktiver Ideologien geworden, die auf dem nihilistischem Humus gedeihen. Ihr entsprießt die Trinität der Leugnung der Identität, Leugnung des Lebens und Leugnung der objektiven Wahrheit. Die islamische wie die chinesische Welt haben auf die Herausforderungen der Zeit eine klare Antwort; die westliche Welt verliert sich dagegen in der Zerredung des Eigenen. 

„Die Frage nach dem kaiserlichen Opfer stellt sich täglich neu“

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Was bedeutet das für europäische Christen im Allgemeinen und katholische im Besonderen? Der Ruf danach, als "Mittler" in Krisenzeiten zu dienen, Kompromisse auszuhandeln und Brücken zu schlagen, wird laut vorgetragen. Doch dieser Dialogbereitschaft liegt eine offensichtliche Verwechslung von Christentum und Demokratie zugrunde. Sie zeigt Identitätsverlust und Selbstaufgabe. Wie soll ein konkreter christlicher Kompromiss in der Abtreibungsfrage, bei homosexuellen Ehen oder Euthanasie aussehen? In einer demokratischen Ordnung sind selbst zynische Kompromisse wie die Erlaubnis der Sterbehilfe am Montag, aber deren Untersagung am Dienstag möglich. Solche Vereinbarungen sind in ihrem relativistischen Geist einer "straffreien Illegalität" wesensnah. Sie entsprechen der Auffassung, dass eine Religion, eine Philosophie oder eine Weltanschauung am Montag richtig, am Dienstag aber falsch sein kann   oder eben "um halb vier Uhr am Platze sei, für halb fünf aber nicht", um ein Wort von Chesterton zu bemühen. Die katholische Lehre, die auf Dogmen fußt, ist in solchen Belangen nicht verhandelbar. Sie beugt sich nicht Mehrheitsmeinungen, nicht Verhandlungen oder Kompromissen, sondern allein der Wahrheit. 

Die Erkenntnis, dass die Volkskirche bereits vor dem Zweiten Vatikanum ein Auslaufmodell war, und das Christentum keine lineare, sondern eine zyklisch-biologische Geschichte durchmacht, steht dabei an erster Stelle. Die Kindheit der Kirche begann mit wenigen Gläubigen, machte die Zeit der Verfolgung durch und avancierte dann zur staatlich geförderten, zuletzt staatlich gar verinnerlichten Religion, die zum Leitmotiv des Mittelalters wurde. Die Französische Revolution ist das Kontra-Ereignis zum Mailänder Edikt, das den Weg von reiner Toleranz wieder hin zur Verfolgung weist. Das Greisenalter des Christentums vor der Endzeit mündet wieder im Martyrium angesichts eines heidnischen Staates. Die Offenbarung geht nicht davon aus, dass eine milliardenstarke katholische Kirche, sondern eine verfolgte Minderheit dem Weltenende entgegentritt. Schon als Universitätsprofessor prognostizierte Joseph Ratzinger, dass die Kirche der Zukunft eine Kirche der Wenigen und der Heiligen  - sein werde. 

Christen werden sich entscheiden müssen

In der Weise, in welcher der katholische Christ wieder mit den Herausforderungen der ersten Jahrhunderte konfrontiert wird, kann er nicht verhandeln, sondern muss sich entscheiden. Ihm bleibt nur die überspitzte Wahl zwischen benediktinischem Mönch und christlichem Ritter. Er kann sich zurückziehen und das Erbe der Zeiten bewahren, indem er in privaten Zirkeln Tradition und Überzeugung mit Gleichgesinnten teilt und die Welt im Kleinen erhält. Nicht für jeden wird dieser Weg möglich sein. Auch die frühen Christen wussten, dass eine komplette Absage an die Welt nicht möglich war, was an den Legenden um den Soldaten Mauritius und der Thebaischen Legion deutlich wird. Die Frage nach dem kaiserlichen Opfer stellt sich täglich neu. Nicht durch Kompromisse, sondern durch offenes Beispiel haben Christen überzeugt, gepflegt und geformt. Ihre gesellschaftstragende Rolle wird die Kirche womöglich verlieren. Was das Abendland jedoch wirklich braucht, sind christlich geprägte Entscheidungsträger an den (nicht nur politischen) Schaltstellen, die   anders als ihre populistischen Vorläufer als Vorbilder dienen, die inspirieren, aufbauen und zur Rückbesinnung auf die wahre Identität Europas beitragen. 

 

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Marco Gallina

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28.03.2024, 21 Uhr
Regina Einig