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Günter Grass: Ein Bußprediger trommelt auf Blech

Vor fünf Jahren ist der Schriftsteller und Moralist Günter Grass verstorben.
Günter Grass - Schriftsteller und Moralist
Foto: IN | Die Pose des moralisch Überlegenen hielt Günter Grass nicht bis zum Ende durch – er war ein Mitglied der Waffen-SS.

Grass darf als eine der Ikonen des polit-medialen Lebens der Bundesrepublik gelten, ebenso wie sein großer Antipode, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki: Der bärbeißige Alte, mit seiner Pfeife beinahe verwachsen, las den Politikern die Leviten. Besonders lag ihm am Herzen, die Verstocktheit der Deutschen anzuprangern. Nach dem Tod von Siegfried Lenz war Günter Grass der letzte polternde Literat, der noch authentisch Auskunft geben konnte von einer untergegangenen und heute weitgehend als fremd empfundenen Epoche, von versunkenen Räumen und Völkern wie den Kaschuben.

Über einen langen Zeitraum waren seine frühen Jahre für die Öffentlichkeit uninteressant. Das Jahr 1959 gilt als Initialjahr seiner öffentlichen Wirkung. Das Erscheinen der „Blechtrommel“ sorgte für einen heute kaum mehr begreiflichen Skandal. Während der etablierte Literaturbetrieb nicht selten gegen pornographische, obszöne, nihilistische und blasphemische Stellen wetterte, gab es gleichfalls euphorischen Zuspruch. Die Zahl der Leser war und ist hoch, der Roman längst ein bundesrepublikanischer Klassiker. Dazu hat die konventionelle Präsentation mittels eines auktorialen Erzählers beigetragen. Spät erhielt der Autor dafür den Nobelpreis.

"Blechtrommel" wurde zum Skandal

Der Gnom mit der Trommel mutierte schnell zur weltweiten Kultfigur. Die kleinbürgerlichen Geschlechts-, Jugend-, Liebes-, Ehestands-, Spießer- und Frontgeschichten galten schon den Zeitgenossen als Physiognomie des angeblich vergangenheitsunkritischen Adenauer-Deutschlands. Dieser Oskar Matzerath, dessen zwei Väter allein schon als Sinnbild für die Heuchelei im Milieu stehen, bewegt sich zwischen dem Kolonialwarengeschäft der Eltern, dem Gemüsegeschäft der Greffs und der Bäckerei Schefflers. Mit der Perspektive von unten wird er nicht fertig – und landet schließlich, der Ermordung einer Krankenschwester beschuldigt, in einer Heil- und Pflegeanstalt. Selten hat ein Autor eine so einprägsame Umschreibung für ein lebensverneinendes Grundgefühl gefunden, wie es vom Protagonisten personifiziert wird, der sich wünscht: „Rückkehr in meine embryonale Kopflage“.

Die umfangreiche Exegese des so wirkmächtigen Textes hat auch christliche Versatzstücke herausgearbeitet: Matzerath verkörpert die Protestgestalt par excellence. Seine Wachstumsverweigerung steht für das radikale Nein zu seiner Umwelt, ebenso das Instrument der Trommel – ein Symbol, zu dessen Verdeutlichung gern Vergleiche mit Christus und dem Kreuz herangezogen wurden. Biblische Anspielungen sind offenkundig, etwa im Kapitel „Glaube, Liebe, Hoffnung“. Freilich kommen auch kirchenkritische Anspielungen nicht zu kurz. Christliche Konventionen lösen sich in „Blutgeruch“ auf, den Gläubigen (auch in der Danziger Heimatgemeinde) wird vorgeworfen, angesichts des Unfassbaren geschwiegen zu haben. Grass sieht den säkularen Schuldbegriff eng mit dem religiösen und dessen Erbe verwoben.

Dogmatismus und Religionskritik

Unter theologischen Gesichtspunkten darf es doch als bemerkenswert gelten, dass dogmatisches Gedankengut – oft eigenartig verfremdet – ebenso auftaucht wie religionskritische Elemente. So hat die Forschung gerade in Grass' Frühwerk Hinweise auf dessen Beschäftigung mit dem Werk Ludwig Feuerbachs und der Projektionstheorie gefunden, die den Gottesgedanken aus grundlegenden menschlichen Bedürfnissen heraus erklärt. Grass hat seine religiöse Prägung nie verschwiegen. Der Mutter zuliebe Ministrant, löste er sich früh vom Glauben. Aus der Kirche trat der sechsfache Vater erst relativ spät aus. Anlass war nach eigener Angabe die Kritik einiger Bischöfe an der Veränderung des Abtreibungsparagraphen in den 1970er Jahren. Ungeachtet dieses Entschlusses galt wohl noch in den späteren Lebensjahren auch für ihn das Bekenntnis von Pilenz, dem Erzähler in „Katz und Maus“, dass er „von dem Zauber nicht lassen“ könne.

Die Danziger Trilogie schließt mit „Hundejahre“ und „Katz und Maus“ ab. Die Vergangenheitsbewältigung bleibt anfänglich zentrales Movens. Mit der Zeit rückten andere Motive stärker in den Vordergrund: feministische (im „Butt) oder katastrophische (ökologische und atomare in der „Rättin“). Später wurde das 20. Jahrhundert in der Rückschau inspiziert („Mein Jahrhundert“); vorher schon warf der Literat, der sich als Gewissen der Deutschen sah, einen Blick auf deutsche Zustände nach der Wiedervereinigung („Ein weites Feld“). Der 2002 publizierte Roman „Im Krebsgang“ beschäftigt sich – wohl zur Überraschung mancher – mit dem Schicksal der deutschen Zivilbevölkerung am Ende des Krieges. Zu seinen am meisten gelobten Texten zählt die Erzählung „Das Treffen in Telgte“. Zeitlich in die Epoche des Barocks versetzt, spielt sie deutlich auf die „Gruppe 47“ an, die sich unter der Leitung von Hans-Werner Richter um einen Neubeginn der Literatur bemüht.

Die verkaufsfördernde Aufregung blieb nicht aus

Mit den großen Erfolgen, die sich schon in den frühen 1960er Jahren abzeichneten, begann das Engagement von Grass als öffentlicher Intellektueller. Er galt bald als prominentes Mitglied der „Willy“-Truppe. Den Machtwechsel 1969 wie auch den geistig-politischen Umbruch in der gleichen Dekade bereitete er durch viele Wahlkampfauftritte und Reden mit anderen vor. Den damaligen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger kanzelte er in einem Schreiben ab. Der vermeintlich moralisch Saubere stellte das ehemalige NSDAP-Mitglied, das sich kaum als antifaschistisches Vorbild eignete, an den Pranger. Die SPD verließ der einstige Wahlkampfagitator 1993, als sie die Asylrechtsänderung befürwortete. Politisch gesehen begannen nach der Wiedervereinigung für den Dichter eher schlechtere Zeiten, gehörte er vor 1989 doch zu den vehementen Verteidigern der Teilung. Aus der Not machte Grass noch lange nach dieser Zäsur eine Tugend. Um seine Autobiographie „Beim Häuten der Zwiebel“ besser vermarkten zu können, veröffentlichte er im Vorfeld der Publikation seine Mitgliedschaft bei der Waffen-SS. Die verkaufsfördernde Aufregung blieb nicht aus. Gerade seine eigene Biographie – er meldete sich zu dieser Einheit, um den engen häuslichen Verhältnissen zu entfliehen – hätte zu einer Versachlichung der Debatte beitragen können. Wie Hunderttausende der Kameraden kam er mehr aus Zufall denn aus ideologischer Verbohrtheit zur Division „Frundsberg“. Nicht jedes einzelne Mitglied trug Verantwortung für Verbrechen, die nicht geleugnet werden können. Es ist nicht primär als Apologie einzustufen, wenn Kurt Schumacher, Vorsitzender der SPD kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, die Waffen-SS als eine „Art vierter Wehrmachtsteil“ bezeichnete. Grass wusste natürlich, dass solche Versuche einer gerechten Wertung in den 2000er Jahren schon lange zurücklagen. Dass er den selbst gesetzten moralischen Maßstäben nicht genügte, störte kaum. Dem Geldbeutel dürfte es genützt haben.

Als 2012 sein Gedicht „Was gesagt werden muss“ erschien, stellten sich vornehmlich wegen der israelkritischen Aussagen zum Teil heftige Reaktionen ein; der Staat Israel erklärte Grass sogar zur persona non grata. Ein letztes Mal sonnte sich der vielfach Ausgezeichnete, der auch als Grafiker, Maler und Bildhauer hervorragende Fähigkeiten vorweisen konnte, in der öffentlichen Aufmerksamkeit. Am 13. April 2015 verstarb er. Manche sehen sein Werk nicht als rund und abgeschlossen, vielmehr als großes Fragment. Es bleibt abzuwarten, wie die weitere Rezeption verläuft.

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