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Agatha Christie: Eine milde Form der Sozialkritik

Agatha Christie (1890–1976) war die „Queen of Crime“ und eine aufmerksame Beobachterin der gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit. Jetzt erlebt sie wieder eine Renaissance.
Miss Marple
Foto: NDR_Degeto | Die schrullige Miss Marple (Margaret Rutherford) ist wieder am Ermitteln, hier zu sehen mit Mr. Stringer (Stinger Davis) in einer Verfilmung von Agatha Christies „Vier Frauen und ein Mord“.

Nur die Bibel und Shakespeare haben angeblich höhere Auflagen als ihre Romane und Kurzgeschichten erzielt. Aber wem es gelingt, zwei Milliarden Exemplare der eigenen Bücher unter die Menschen zu bringen, der beziehungsweise die bewegt sich in einer ganz eigenen Kategorie innerhalb der Literaturgeschichte. Die Rede ist von Agatha Christie, der ungekrönten „Queen of Crime“, die in diesem Jahr ihren 130. Geburtstag gefeiert hätte und vor genau 100 Jahren mit der Veröffentlichung von „Das fehlende Glied in der Kette“ ihre Karriere begann.

Skurrile Ermittler, eine feine Zeitgeistanalyse und viel Charme

Die Zutaten für das Christie'sche Erfolgsrezept in Buchform und später auch im Kino und TV scheinen denkbar simpel: Ein Mord in einem altehrwürdigen englischen Herrenhaus, eine große Anzahl an Tatverdächtigen – die meist aus dem nahen familiären Umfeld des Opfers stammen – sowie ein skurriler Ermittler oder eine schrullige Hobby-Ermittlerin, die am Ende im Kaminzimmer des Herrenhauses allen Anwesenden (und natürlich auch den Lesern) eine Auflösung des „Murder Mysterys“ munter vor die Nase hält, die so und niemals anders hätte aussehen können. Gewiss, Agatha Christie ließ nicht nur im nasskalten England, sondern auch am warmen Nil morden. Und nicht immer war es die bucklige Verwandtschaft, die am Ende einen der ihren auf dem Gewissen hatte. Dennoch sind es diese häufig wiederkehrenden Bestandteile, die den Geschichten der englischen Erfolgsautorin ihre Unverwechselbarkeit und auch einen nicht abzusprechenden Charme garantierten. Von unvergesslichen Ermittlern wie Hercule Poirot, Miss Marple oder Tommy und Tuppence Beresford ganz zu schweigen.

Wer jedoch im 21. Jahrhundert die Bücher und Geschichten von Dame Agatha zur Hand nimmt, der wird bei genauerer Lektüre feststellen, dass diese Werke von ihrer Verfasserin keineswegs eine angeblich „gute alte Zeit“ heraufbeschwören oder als reine Nostalgiegeschichten für zukünftige Lesergenerationen konzipiert worden sind wie sie beispielsweise durch die Miss-Marple- und Hercule-Poirot-Verfilmungen in den 1960er und 1970er Jahren oder auch Kenneth Branaghs erfolgreiche Neuverfilmung von „Mord im Orient-Express“ von 2017, auf den in diesem Oktober „Tod auf dem Nil“ folgen wird, mutierten. Vielmehr kann Agatha Christie als eine im besten Sinne „zeitgenössische“ Autorin betrachtet werden, die in ihren jeweiligen Werken den damaligen Zeitgeist beziehungsweise die damals gültigen gesellschaftlichen Gepflogenheiten kongenial erfasste und als Handlungsantrieb für ihre Kriminalgeschichten verwendete. Es ist durchaus gar eine milde Form der Sozialkritik zwischen den Zeilen nicht weniger ihrer Kriminalgeschichten erkennbar – gerade wenn die Begründung mancher Mordmotive auf den gesellschaftlichen Strukturen der damaligen Zeit beruht.

„Murder Mysterys“ in Perfektion

Wie beispielsweise im Poirot-Roman „Dreizehn bei Tisch“ von 1933, in dem ein Mord in hohen Kreisen geschieht, damit der Täter eine zum damaligen Zeitpunkt gesellschaftlich geächtete Scheidung umgehen und gewissermaßen nach dem Prinzip „bis dass der Tod euch scheidet“ neu heiraten kann. Ein ähnliches Motiv findet sich unter anderem in dem Poirot-Roman „Nikotin“ von 1934 sowie dem Miss-Marple-Roman „Die Schattenhand“ von 1943. Und eine andere, heutzutage vielen Menschen nicht mehr bewusste Tatsache war es außerdem vor mehreren Jahrzehnten, dass der englischen Polizei mitunter die Hände gebunden waren, um in Adelskreisen bei Verbrechen ermitteln zu können. So diente der belgische – und somit nicht der britischen Klassengesellschaft angehörende – Meisterdetektiv Hercules Poirot Agatha Christie als eine Figur, die sich in einem Mordfall mühelos zwischen allen möglicherweise in das Verbrechen verwickelten Schichten bewegen und sowohl mit Vertretern des Adels als auch mit denen der Dienerschaft interagieren durfte. Dieses die eigene Zeit durchaus kritisch hinterfragende Element der „Murder Mysterys“ Agatha Christies wird gegenwärtig in der immens erfolgreichen US-Krimikomödie „Knives Out – Mord ist Familiensache“ von Rian Johnson kongenial ins 21. Jahrhundert überführt. „Knives Out“ ist eine ganz offensichtliche Hommage an Agatha Christie. Ihre Variante des Kriminal- und Detektivromans – und ebenso subtil wie die Queen of Crime selbst greift Rian Johnson in seinem unter anderem mit Daniel Craig, Chris Evans, Jamie Lee Curtis, Don Johnson und Ana de Armas hochkarätig besetzten Film, in dem in einem amerikanischen Landhaus ein erfolgreicher Kriminalautor (Christopher Plummer) an seinem Geburtstag ermordet wird und seine gesamte Familie als höchst tatverdächtig gilt.

Auch im 21. Jahrhundert also ist das Genre des Murder Mysterys, so wie es Agatha Christie einst zur Perfektion gebracht und Rian Johnson es nun in die Gegenwart übertragen hat, immer noch äußerst beliebt und lebendig. Bei spannenden Krimis reichen mitunter subtile Anspielungen auf die jeweils gegenwärtige gesellschaftliche Realität, um dem Ganzen noch eine besondere Note zu geben – den Holzhammer kann man dann getrost für etwas anderes verwenden.

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