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Verzicht führt zu innerer Freiheit

Der Sinn des Fastens scheint oft verdreht und selbst in einer Kirche, deren Glaubenswissen zusehends verdunstet, absurd verfälscht. Zunehmend wird die Fastenzeit politisch missbraucht, um ideologische Ziele populistisch zu befördern. Viele lassen sich dazu verleiten, öffentlichkeitswirksam mit zu tun: „Seht her, wie gut ich bin!“
Pharisäer und Zöllner
Foto: Artokoloro, imago-images | Selbstgerechte Bespiegelung des eigenen "Gutseins", die Herabsetzung des Mitmenschen unter Verweis auf deren "Verfehlungen" - kann das vor Gott frei machen? Das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöller lehrt etwas andres.

Fasten zählt ja bei manchen nur, wenn es so richtig weh tut. Andere überbieten sich in demonstrativ zur Schau getragener Askese und Selbstgeißelung. Wie wäre es mit einer anderen Einstellung?

Und, was fasten Sie diesmal? Es ist genau ein Jahr her, dass Verzicht auf allen Ebenen zum neuen Staatsprogramm erhoben worden ist. Müssen wir also in der christlichen Fastenzeit noch eins drauflegen, verzichten wir nicht schon genug? Ich erinnere mich gut, wie uns vor einem Jahr zum Anbruch des ersten Corona-Lockdowns aus der Politik der Vorschlag ereilte, man möge jetzt „Sozialkontakte“ fasten im sehr durchschaubaren Versuch, der Bevölkerung die Einschränkungen ihres Privatlebens mit einem höheren Sinn schönzureden.

„Der ein oder andere würde laut Umfragen gerne
Angela Merkel fasten und auch weitere Teile der Regierung“

Ein ganzes Land übt sich seither in der Auslassung von Dingen, die Freude bereiten. Der Preis ist hoch. Anstieg von Einsamkeit, Depressionen, Suizidzahlen, Fettleibigkeit und Alkoholkonsum kann statistisch bereits dokumentiert werden. Kann man auch Menschen fasten? Und gäbe es etwas Gutes an diesem Gedanken? Der ein oder andere würde laut Umfragen gerne Angela Merkel fasten und auch weitere Teile der Regierung; ich faste beispielsweise mit Leichtigkeit öffentlich-rechtliche Nachrichtensprecher. Abseits des politischen Zynismus führt die Fokussierung auf den Verzicht aber an einem nahezu revolutionären Aspekt des Fastens vorbei: der gewonnenen Freiheit.

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Es beschämt mich etwas, wie alt ich selbst werden musste, um diese doch banal einfache Offensichtlichkeit zu verstehen. Ich blieb die Tage an einem kurzen Zitat von Fürstin Gloria von Thurn und Taxis in genau dieser Zeitung hängen, dass ihr alle Menschen sympathisch seien, die in der Fastenzeit irgendetwas überwinden würden. So hatte ich das Fasten noch nie betrachtet. Vielleicht auch deswegen, weil es immer nur als Verzicht und Selbstgeißelung gepredigt und kolportiert und dadurch in Verruf gebracht wird. Fasten zählt ja bei manchen nur, wenn es so richtig weh tut.

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Demonstrativ zur Schau gestellte Askese

Andere überbieten sich gar gerne gegenseitig in demonstrativ zur Schau getragener Askese und Selbstgeißelung. Seht her, wie sehr ich verzichte. Ein Gedankengang, der in der neu erwachten Klimarettungsszene ein ungeahntes Revival erfährt. Seither fasten wir nicht mehr Alkohol, Zigaretten und Süßigkeiten, sondern Flugreisen, Fleisch und CO2. Allerdings nicht zum Zweck unserer Rettung, sondern zur Rettung des Planten vor uns. Grandioser kann man das Fasten gar nicht zweckentfremden.

Etwas überwinden, hinter sich lassen, davon befreit sein. Was wäre, wenn wir das Fasten endlich positiv, als einen Weg zur Freiheit betrachten? Nicht mehr ein „Du darfst nicht“, sondern ein „Du musst nicht mehr“. Du musst nicht mehr rauchen und trinken, dich vollstopfen, Dingen und auch Menschen hinterherhetzen, die dir sowieso nicht gut tun. Du musst nicht mehr getrieben sein von den Zwängen, die deine Gelüste dir auferlegen. Kannst endlich ausruhen. „Wer fast nichts braucht, hat alles“, fasste es der Kinderbuchautor Janosch zusammen. Fasten ist frei werden und kein Verzicht.

Der Weg in die Freiheit ist nicht leicht

Den Unterschied zu erkennen, ist nicht immer leicht. Der Weg in die Freiheit schon gar nicht, oft ist er auch gar nicht verlockend und stattdessen beschwerlich. „Sucht“ und „Sehnsucht“ stehen nicht nur als Wortstämme sehr nahe beieinander. Am Aschermittwoch vor genau fünf Jahren habe ich das Rauchen aufgegeben. Ich wollte weder eine Heldin noch frei sein. Es war eher eine radikale Vernunftentscheidung zugunsten meiner Gesundheit, getrieben nicht von religiösem Eifer, sondern getragen aus Liebe zu meinen Kindern und ihrem Anspruch auf eine Mutter. Ich hatte damals große Angst vor dem Tag meiner letzten Zigarette. Vor den Entzugserscheinungen, dem Scheitern.

Es gab so viele Gründe, es nicht zu versuchen, denn wir gehen ja nie in die Freiheit, sondern immer nur ins Ungewisse. Schon Moses hatte es nicht einfach, seinem Volk den Auszug aus der Sklaverei schmackhaft zu machen. Die Angst des Menschen vor der Freiheit scheint fast so groß zu sein wie seine Sehnsucht nach ihr. Der Tag meiner Befreiung kam Gott sei Dank schneller als im Alten Testament, in Form einer frierenden Rauchergruppe vor einem Lokal. Im Vorbeilaufen überfiel mich spontan der Gedanke: „Wie schön, dass ich da nicht mehr stehen muss.“

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