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Nassim Nicholas Taleb: Aufs Spiel gesetzt

Die Corona-Krise offenbart nicht zuletzt die Dimensionen von Risiken und Kontingenzen. Der weltweit beachtete Finanzmathematiker und Bestsellerautor Nassim Nicholas Taleb bezieht das Religöse in seine Studien mit ein.
Schwarzer Schwan
Foto: dpa | Manchmal tritt das Unwahrscheinliche ein: ein "Schwarzer Schwan" oder eine Pandemie zum Beispiel.

Zu den Metaphern der Stunde zählt die vom „Schwarzen Schwan“. Zu Berühmtheit gelangte sie, als sich die „Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“ vornehmlich in den Terroranschlägen von 2001 und in der Finanzkrise von 2007/08 konkretisierte. Taleb hat diese von Karl Popper stammende Theoriefigur in seinem 2007 erstmals auf Deutsch erschienenen Erfolgstitel aufgegriffen.

Taleb versucht das Gewisse vom Ungewissen her zu deuten, das Normale vom Extremen, das Wahrscheinliche vom Unwahrscheinlichen. Die entsprechenden Größen sind komplementär. Parallel zum rapid wachsenden Wissen steigt die Rate des Ungewissen. Seriöse Prognosen sind daher immer schwerer möglich.

Nun kann man natürlich darüber streiten, ob die Corona-Krise wirklich einen Anwendungsfall der Theorie vom Schwarzen Schwan darstellt. Handelt es sich wirklich um ein unwahrscheinlich-unvorhersagbares Ereignis? Man darf skeptisch sein. Ein verwandtes Virus, SARS-CoV-1, konnte in China vor über eineinhalb Jahrzehnten erfolgreich eingedämmt werden. Der Bundestag simulierte bereits 2013 eine SARS-Pandemie. Eine epidemiologische Studie, verfasst von Peng Zhou aus Wuhan 2019, hat den weltweiten Verlauf der Seuche relativ genau vorhergesehen. Vor diesem Hintergrund ist begreiflich, dass Taleb sich dagegen ausgesprochen hat, „Corona“ als Schwarzen Schwan zu interpretieren. Das verbreitete Wegsehen von der Gefahr ist kein Beleg für die Stimmigkeit dieser Theoriefigur.

Die Moderne strebt stets nach Sicherheit

Seuchen zählen zu den Lebensrisiken, die das endliche Dasein bedrohen. Wenngleich sie anscheinend weltweit an Relevanz verloren haben, darf man nicht von ihrem Verschwinden ausgehen. In der modernen Forschung finden sich zahllose Belege für die These von der „Illusion der Gewissheit“ (Gerd Gigerenzer). Diese Erkenntnis zeigt überdeutlich, dass die probabilistische Revolution seit dem 17. Jahrhundert, die die Wahrscheinlichkeitsrechnung hervorgebracht hat, nicht einfach als Triumph über Fortuna betrachtet werden kann. Ein solcher vermeintlicher Sieg markiert eine Grundtendenz der Moderne. Sie möchte durch die Institutionalisierung der wirtschaftlichen wie wissenschaftlichen Rationalität ein „stählernes Gehäuse“ (Max Weber) nicht nur der „Hörigkeit“, sondern auch der Sicherheit schaffen. Die Ambivalenzen dieser Prozesse sind hinreichend oft erörtert worden.

Bis zu einem gewissen Grad kann ein solches Unterfangen durchaus gelingen. Dies belegt der erhöhte Lebensdurchschnitt der Menschen in der westlichen Welt. Lebensrisiken können minimiert werden, beispielsweise durch bessere Ernährung und Krankheitsvorbeugung. Die Zufälligkeiten des Daseins bleiben nichtsdestotrotz erhalten. Dieses scheinbar banale Faktum macht es unmöglich, den Faktor Religion über längere Zeiträume zu eliminieren. Religion in ihren mannigfachen Varianten ist gerade in ihrer Funktion, die in der conditio humana verwurzelte Kontingenz zu bewältigen, „aufklärungsresistent“. Der Philosoph Hermann Lübbe hat diese Dimension in seiner grundlegenden Studie „Religion nach der Aufklärung“ gebührend herausgestellt. Die klassischen Fortschrittsideologien, die in der Aufklärung wurzeln, etwa der Marxismus, haben Lebensrisiken und Tod höchstens am Rand als Problem gesehen, anders als der heute in manchen Intellektuellenkreisen modische Trans- und Posthumanismus. Dessen Repräsentanten, etwa die dem säkularisierten Judentum entstammenden Denker Yuval N. Harari und Ray Kurzweil, betrachten das Aufgehen der humanen Spezies im „Dataismus“, in der Datenreligion, als Vollendung im irdischen Paradies. In diesem Endstadium hat sich auch jegliches Risiko erledigt.

Blaise Pascal: Das ganze Leben ist eine Wette

Risiko ist nicht identisch mit angenommenen Gefahren, sondern bewertet die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts. Die subjektive Wahrnehmung unterscheidet sich naturgemäß von der objektiven. Einer der Gründe für eine solche Diskrepanz ist in der medialen Berichterstattung, aber auch in psychologischen Dispositionen des Einzelnen zu suchen. Subjektiv dürfte die von dem Virus SARS-CoV-2 ausgehende Gefahr überwiegend höher eingeschätzt werden als objektiv. Letzteres kann man für 2020 erst im darauffolgenden Jahr anhand einer etwaigen Zunahme der Todesrate feststellen, die in Deutschland durchschnittlich bei 2 500 Todesfällen pro Tag liegt. Dabei soll nicht behauptet werden, dass jenseits dieses Kriteriums die vielen Konsequenzen der Krankheit (medizinischer wie außermedizinischer Art) gering zu achten seien.

Die Risikoforschung, die im 19. Jahrhundert auf neue Grundlagen gestellt wurde, ist dem Geist der Säkularisierung geschuldet. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass ein früher Wahrscheinlichkeitstheoretiker, der Universalgelehrte Blaise Pascal, die Quintessenz der Wette im Sinne einer religiösen Entscheidung begriffen hat. Für ihn ist das ganze Leben eine Wette. Wenn wir auf den Schöpfer setzen, sind wir im Vorteil. Existiert er, haben wir gewonnen und den Gewinn maximiert; gibt es ihn hingegen nicht, ist es folgenlos, dass wir auf eine bloß imaginierte Größe gesetzt haben. Dieses Gedankenmodell hat etwas für sich, übersieht aber, dass Glauben unter christlichen Bedingungen nie ausschließlich einem intellektuellen Kalkül entspringen kann.

Wenn Gott tot ist, muss der Mensch allein entscheiden

Das Risiko betritt die Weltbühne, wenn sich Gott von ihr verabschiedet hat, so hat es der Soziologe Ulrich Beck in seiner Schrift „Weltrisikogesellschaft“ treffend formuliert. Wenn Gott tot ist, wird der Mensch gezwungen, alle Entscheidungen allein zu tragen. Nicht nur Existenzialisten wie Jean-Paul Sartre sehen in einer derartigen Bestimmung das Wesensmoment des aufgrund seiner Freiheit nunmehr noch stärker verantwortlichen Menschen. Nach einem solchen epochalen Szenenwechsel muss der Mensch für Katastrophen und Bedrohungen neue Erklärungen finden.

Der erwähnte Autor Taleb hat auch in seiner neuesten Darstellung „Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game“ nicht ohne die für ihn typischen Gedankensprünge individuelle Handlungen, Gesellschaft und Markt sowie Religion in einer Tour d'Horizon untersucht. Er kritisiert, dass wichtige Entscheidungen in Wirtschaft und Politik öfters von Menschen getroffen werden, die ihre Haut nicht zu Markte tragen müssen. Dementsprechend fallen solche Dezisionen auch aus.

Im Gegensatz dazu stechen diejenigen hervor, die um der von ihnen vertretenen Sache willen genau dies tun. So versteht Taleb auch Christus als jemanden, der ein Risiko auf sich genommen habe, anders als die Pharisäer und Schriftgelehrten. Er habe in exemplarischer Weise die „Haut aufs Spiel“ gesetzt, die ihm von seinen Peinigern dann sogar „abgezogen“ wurde. Ein Gott, der am Kreuz nicht wirklich gelitten und seinen Auftrag nicht mit seinem Leben und Tod bezeugt hätte, wäre nicht viel mehr wert gewesen als ein Zauberer. Der Weg zum Vater hätte ohne das Scheitern nicht zum Ziel geführt.

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