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Weihnachten – doch nur ein Märchen?

Die Bedeutung der festlichen Tage ist umstritten. Für viele Zeitgenossen ist die Erzählung von Jesus und der Krippe aus dem gleichen Stoff gestrickt, wie die Märchen der Brüder Grimm. Eine Betrachtung. Von Professor Heinrich Beck
Krippe im Osnabrücker Dom
Foto: dpa | Kinder staunen über das Geschehen in der Krippe. Sie scheinen – im Unterschied zu manchem Erwachsenen – zu spüren, dass die Jungfrau Maria keine Märchenfigur ist.

Heute herrscht weithin die Meinung, Weihnachten sei ein Märchen. Es begegnet uns eine Märchenwelt: Elche, Nussknacker, Zwerge, Wichtelmänner und Weihnachtsmänner, darunter gelegentlich auch ein pausbackiges Jesuskind. Weihnachten erscheint seinem ursprünglichen Sinn total entfremdet, verkitscht und kommerzialisiert.

So wollen wir im Folgenden drei grundlegende Fragen stellen. Erstens: Was heißt Weihnachten? Was feiern wir eigentlich bei diesem Fest? Zweitens: Was meint man, wenn man sagt: Weihnachten ist ein Märchen? Und drittens: Ist das, was wir an Weihnachten begehen, tatsächlich ein bloßes Märchen? Gibt es hier Argumente? Also zunächst: Was feiern wir an Weihnachten? Die Antwort lautet: nicht nur unseren Wunsch nach Wärme und Geborgenheit in der winterlichen Jahreszeit, wie heute vielfach gesagt wird, sondern noch viel eigentlicher und ursprünglicher: die Geburt Jesu Christi! Zu unterscheiden ist hier das äußere Geschehen und sein innerer Gehalt. Als das äußere Geschehen wird beschrieben: Zur Zeit des römischen Kaisers Augustus sind in Bethlehem, das in der Provinz Palästina liegt, zwei Menschen auf Herbergsuche, die schwangere Frau Maria und ihr Mann Joseph. Sie werden überall abgewiesen. So geschieht die Geburt Jesu in einem Stall in einer Krippe – unter den Bedingungen der Kälte der Natur und der Gefühlskälte der Menschen. Der innere Gehalt, die Bedeutung dieses Geschehens liegt darin, dass mit Jesus Gott in seinem Sohn Mensch wird und uns den Zugang zu unserem Ursprung erschließt. In Jesus steigt Gott zum Menschen ab, damit der Mensch zu Gott aufsteigen kann; so können wir wahre Geborgenheit und Erfüllung finden. Inmitten allen Leides und aller Bosheit der Erde öffnet sich der Himmel. Eben dies aber wird heute weithin als Märchen bezeichnet.

So stellt sich nun unsere zweite Frage: Was meint man mit der Auffassung der Weihnachtserzählung als „Märchen“?

Man will damit sagen: Die berichtete Menschwerdung Gottes ist keine Realität, sondern menschliche Erfindung, Dichtung, Produkt der Phantasie. Es handelt sich bestenfalls um eine bildliche Einkleidung unserer Sehnsucht nach Erlösung und nach einem endgültigen Sieg des Guten. Solche Ur-Sehnsucht scheint verankert in einem archetypischen Muster des kollektiven Unbewussten der Menschheit, von dem die Tiefenpsychologie C. G. Jungs spricht. Diese Anlage drückt sich symbolisch in zahlreichen Dichtungen aus, wie zum Beispiel im Märchen vom Dornröschen. Darin sinkt ein schönes Mädchen durch den Spindelstich einer bösen Hexe in einen 100-jährigen Schlaf; aus ihm wird es erlöst durch den Kuss eines Prinzen. Nun meint man: Ähnlich wie dort der Prinz zum Dornröschen, so kommt im Weihnachtsglauben der Sohn Gottes zur Menschheit und erlöst sie durch seine Liebe. Beides sind nur verschiedene Ausdrucksformen der selben menschlichen Sehnsucht; es handelt sich hier wie dort lediglich um ein Märchen.

Der Ausdruck: „Märchen“ hat eine vielschichtige Bedeutung. Er leitet sich her von dem heute kaum noch gebräuchlichen Wort „Mär“, und das heißt: Botschaft, Kunde – nicht als Bericht über ein geschichtliches Ereignis, sondern über eine tiefere Wahrheit jenseits der Welt von Raum und Zeit und ihrer Kausalzusammenhänge, letztlich über einen „göttlichen Hintergrund“ der Welt.

So will man mit der Deutung des Geschehens als Märchen sagen: Um die Übel, Leiden und Bosheiten auf der Erde ertragen zu können, katapultiert sich der Mensch durch Märchen immer wieder in den Himmel, in ein reines Reich des Guten – aus dem er dann aber umso härter in den realen Alltag abstürzt. Auch Weihnachten ist ein Ausdruck dieser Sehnsucht, ein Sich-Hineinträumen in eine heile Welt der Liebe, ein Wunschtraum, der gefeiert wird mit Glühwein und durch ein gegenseitiges Sich-beschenken mit Süßigkeiten und schönen Dingen. Doch fragen wir uns – und dies ist nun der dritte Teil unserer Betrachtung: Ist das schon die volle Wahrheit? Handelt es sich an Weihnachten tatsächlich um nichts Anderes als um ein Märchen? Oder sollen die kleinen vordergründigen guten Dinge, Geschenke und Liebesgesten hintergründig – vielleicht unbewusst – hinweisen auf ein tiefstes Beschenktwerden durch Gott, auf ein zugrunde liegendes reales Geschehen, das bis jetzt Gültigkeit hat?

Ein erstes Argument könnte die Übereinstimmung des Geschehens der Geburt Jesu mit Weissagungen und Prophetien im Alten Testament sein, besonders bei Jesaja, die die geschichtliche Geburtszeit und den Geburtsort des Messias angeben und die auch sein Schicksal voraussagen.

Ein anderes, vielleicht noch umfassenderes Argument ergibt sich aus dem späteren Auftreten Jesu. Denn dieses ist gekennzeichnet durch unbedingte Macht, Hoheit und Liebe. Er erweist sich als nicht bedingt und begrenzt: weder durch die Gesetze der Natur (durch ein Wort stillt er den Sturm auf dem Meer und bewirkt er Heilung und Wiederbelebung), noch durch die Gesetze der ihn umgebenden Gesellschaft (er heilt sogar am Sabbat, wie es die Situation verlangt und es ihm das Herz eingibt).

Sollte sich in dieser Unbedingtheit und Unbegrenztheit seines Handelns eine Unbedingtheit und Unbegrenztheit seines Seins ausdrücken, das heißt, die unmittelbare Präsenz einer göttlichen Wirklichkeit?

Dabei geriert er sich keineswegs als Über-Mensch, der über aller menschlichen Freude und Not stünde und von ihr nicht betroffen würde. Sondern er zeigt sich vielmehr als unbegrenzt menschlicher Mensch. Sein erster öffentlicher Auftritt geschieht bezeichnenderweise bei einer Hochzeit, indem er Wasser zu Wein macht. Er leidet mit den Leidenden und verurteilt die Selbstgerechten. Am Kreuz stößt er den Verzweiflungsschrei aus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – wobei er sich mit unserer Not und Verlassenheit bis ins Letzte eins macht und sie vor Gott trägt. Dieses Verhalten Jesu kongruiert mit seinem Selbstbewusstsein: Als Johannes der Täufer ihn fragen lässt, ob er der angesagte Messias sei, antwortet er mit deutlicher Anspielung auf die Messiasverheißung: „Berichtet, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote werden auferweckt und Armen wird das Heil verkündet!“ (Matth. 11,2–5 und Luk.7,18–22)

Ja, das Jesus-Geschehen ist ein Märchen – und zwar ein „wahres“ Märchen, die geschichtlich erwiesene Bewahrheitung des in den Märchen immer schon erhofften himmlisch-irdischen Geschehens. Wir können uns ihm anvertrauen.

Der Autor ist em. Ordinarius (Philosophie I) an der Otto Friedrich–Universität Bamberg und Mitglied der Internationalen Akademie der Wissenschaften sowie Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste.

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