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Prophet der Einsamkeit

„Schreiben als Form des Gebetes“: Wie Franz Kafka sein geistiges Leben bewahrte und Hoffnung fand. Von Christian Eschweiler
Franz Kafka Denkmal in Prag
Foto: Foto: | Dieses Denkmal Franz Kafkas kann man in Prag bestaunen. Das wahre Geheimnis findet man in Kafkas Werk.dpa

Am Beispiel farbig verglaster Kirchenfenster hat Goethe die Doppelgesichtigkeit großer Kunst überzeugend erschlossen: Sieht man vom Markt und seiner Alltagsgeschäftigkeit in die Kirche hinein, dann bleibt alles dunkel und düster; betritt man aber aufgeschlossen den Innenraum, verwandelt er sich in eine heilige Kapelle, die vom leuchtenden Glanz ihrer strahlenden Fenster bedeutungsvoll erfüllt ist. Diese Erkenntnis, die Goethe in seinem kleinen zweistrophigen Text „Gedichte sind gemalte Fensterscheiben“ offenbart, wird zweifellos zu einem Maßstab für den richtigen Umgang mit der Kunst und für das Bemühen, sie zu verstehen.

Kafkas zwar weltberühmter, aber noch immer rätselvoller Prozess-Roman ist nur von innen zu erhellen und in seiner sinnvollen Entwicklung als einzigartiger geistiger Kosmos zu erkennen. Reiner Stach beschreibt in seiner opulenten dreibändigen Kafka-Biografie minutiös den Alltag und das Leben des Dichters sowie sein ganzes soziales Umfeld. Aber wenn es um die Werke geht, die der Künstler Kafka geschaffen hat, reicht der Blick des Philologen und Biografen leider nicht über den „Markt Goethes“ hinaus. Infolgedessen bleibt für ihn „Der Prozess“ ein unentwirrbares Durcheinander, „nichts ist hier normal, nichts ist einfach“. Das Ganze wird zu einem geradezu bedrohlichen „Monstrum“, das die trostlose Schlussfolgerung bewirkt: „Der Befund bleibt stets derselbe. Finsternis, wohin man blickt.“

Stach kennt natürlich alles von Kafka und weiß auch über seine Lebensumstände genau Bescheid. Es ist die unmittelbare Lebenswirklichkeit, in der jedes menschliche Wesen individuell verwurzelt ist und die Grundlage, auf der es sich entfaltet. Es erscheint zunächst als der lebendige Vordergrund, der Markt Goethes, der sich in seiner betriebsamen Geschäftigkeit scheinbar selbst genügt. Daran hat jeder Einzelne in irgendeiner Form Anteil; denn es sind die unumgänglichen Notwendigkeiten des täglichen Lebens, die allen Menschen gemeinsam sind. Anders verhält es sich jedoch mit der geistigen Existenz des Einzelnen. Sie hebt ihn gerade als einzigartiges Individuum aus den Vielen heraus, kennzeichnet seine Besonderheiten, weist ihm seine per-sönliche Aufgabe zu, die ihn verpflichtet, sich „seine geistige Lebensmöglichkeit“ zu schaffen.

In diesem Sinn bekennt Kafka, dass ihm die Sorgen um seine geistige Existenzbehauptung das Wesentlichste in seinem Leben sei. Wörtlich schreibt er: „Mich beschäftigte nur die Sorge um mich.“ Da er überzeugt ist, dass alles letztlich nur auf die geistige Welt ankomme, „denn es gibt nichts anderes als eine geistige Welt“ – (damit begreift er den geheimnisvollen irdischen Kosmos als einzigartiges geistiges Sinngefüge) – durchleuchtet er die Erscheinungswelt, um ihren verborgenen Hintergrund zu erhellen. Kafka ist sich bewusst, dass er damit versucht, sich dem Geheimnis der Schöpfung zu nähern; und weil das nur in Ehrfurcht möglich ist, empfindet er seine Arbeit, sein „Schreiben als Form des Gebetes“.

Das aber kennzeichnet den geistig-seelischen Intimbereich, in dem der Einzelne mit sich allein ist, in sich hineinhorcht, seine persönliche Identität sucht, um seinen eigenen Weg zur sinnvollen Erfüllung seines Lebens zu finden. „Das Alleinsein hat eine Kraft über mich, die nie versagt. Mein Inneres löst sich und ist bereit, Tieferes hervor-zulassen“, hält Kafka in seinem Tagebuch fest und gewinnt dadurch die Überzeugung: „Was ich geleistet habe, ist nur ein Erfolg des Alleinseins.“

Es ermöglicht ihm seine Verinnerlichung, sein Sich-Hinabsenken in die eigene Tiefe. Dies gehört offenbar zum inneren Wesen eines Künstlers, seinen tieferen Einsichten, „denn er sieht anderes und mehr als die anderen“, wie Kafka wiederum im Tagebuch gesteht. Diese Offenbarung seines gelösten Inneren fließt allerdings ausschließlich in sein Kunstwerk ein. Die tiefe Vision in seinem Innern hebt er durch ihre schöpferische Gestaltung ins Bewusstsein und macht dadurch Geistiges wahrnehmbar. Das ist zugleich die einzigartige und persönliche Botschaft eines Künstlers, der auch heute noch seine Kunst ganz im Sinne der klassischen Definition als dem sinnlichen Scheinen einer Idee erschafft und übermittelt. Sein künstlerisches Werk ist die Widerspiegelung einer Welt, wie sie der Genius in der Tiefe seines Inneren erstrebt. Deshalb sagt auch das Kunstwerk bei weitem mehr aus über die Besonderheit, das Wesen und die geistige Welt eines Künstlers als die umfassendste Beschreibung seines Lebens: Es geht vor allem darum, was er zu sagen hat und wie er es in seinem Werk verwirklicht. Dass es dazu der Anstrengung seiner ganzen Persönlichkeit bedarf, ist Kafka bewusst, denn sein „Schreiben hat das Schwergewicht in der Tiefe“, und die erschlossene „Wahrheit ist doch eine Angelegenheit des Herzens“, der man „nur mit der Kunst beikommen“ kann, ist er überzeugt. Deshalb bedeutet ihm seine Dichtung „das Wichtigste auf Erden“, die ihm sogar als verpflichtende Aufgabe auferlegt ist, um die Erscheinungen der Welt „ins Reine, Wahre, Unveränderliche“ emporzuheben. Es ist „eine prophetische Aufgabe,“ wie er einmal sagt, „das isolierte Sterbliche in das unendliche Leben, das Zufällige in das Gesetzmäßige hinüberzuführen.“

Kafkas Kunst hat ausschließlich das Ziel der Vergeistigung und Höherführung des Menschen! Obwohl er weiß, dass dieser Weg ein „Ansturm gegen die letzte irdische Grenze“ ist, und in einem Brief schreibt: „leiblich und psychisch ganz gesund ein wahres Geistesleben führen – das kann kein Mensch“, gründet in dieser Zielrichtung seine unerschütterliche Hoffnung, die sein ganzes Werk und sein Leben durchflutet und prägt: „Wie könnte ich ohne Hoffnung leben?“ fragt er beschwörend in einem Brief und teilt damit Hölderlins Überzeugung im Hyperion: „Was wäre das Leben ohne Hoffnung? – Es lebte nichts, wenn es nicht hoffte.“ In Kafkas Kunstwerken fehlt – richtig verstanden! – nie der Lichtblick der Hoffnung. Kafkas Kunst bejaht.

Obwohl der Dichter selbst ausdrücklich darauf hinweist, dass er seine Dichtungen als „Lichtblicke in eine unendliche Verwirrung“ geschaffen hat, überwog und über-wältigte die Faszinationskraft der „unendlichen Verwirrung“ derart unwiderstehlich, dass das Licht dabei zu verlöschen drohte. Die ungeheure Vielfalt der Gefährdungen, Ablenkungen und Verirrungen des mensch-lichen Lebens verdichten sich in seiner Kunst in einer eigenwilligen dichterischen Bilderwelt, die nicht unmittelbar sinnfällig ist und dadurch zur Deutung der offenbar rätselvollen Metaphern verlockt. Aber Kafka selbst warnt vor allzu schnellen Schlussfolgerungen oder sogar Fehlschlüssen und mahnt, man müsse „schon sehr nahe herantreten“, um etwas zu sehen, und bis zum verborgenen Hintergrund in der Tiefe vordringen, um seiner geistigen Botschaft wirklich gerecht zu werden.

Einmal verweist er sogar fast beschwörend auf seine Überzeugung: „Schatten löschen die Sonne nicht aus“; denn auf die Sonne kommt alles an, diese Quelle des Lebens und des Lichts, die Lichtblicke menschlicher Erkenntnis, die vor allem einem Genius zuteil werden, der von sich in demütiger Bescheidenheit sagt: „Ich bemühe mich, ein richtiger Anwärter der Gnade zu sein. Ich warte und schaue.“ In dieser Erwartung wird ihm ja vielleicht die Intuition „für eine von lebendiger Idee geordnete Welt“ geschenkt, die er sich für seine Kunst erhofft; denn er ist überzeugt: „Erst in der geordneten Welt beginnt der Dichter.“ Damit aber wird das Kunstwerk selbst zu einem Maßstab für die Bewertung und Beurteilung des Künstlers. „Am Werk wird der Schriftsteller nachgeprüft“, schreibt Kafka in einem Brief und stellt dadurch selbst die richtungweisenden Weichen für eine ernst-hafte Würdigung seiner dichterischen Welt und ihres Autors.

Wer einer Dichtung Kafkas begegnet, wird zunächst erstaunt sein über die Schlichtheit seiner Sprache, aber zugleich über die eindrucksvolle Anschaulichkeit seiner Bilderwelt, deren Faszinationskraft den Leser sofort in ihren Bann zieht. Obwohl es nicht schwer fällt, das Entwicklungsgeschehen unmittelbar nachzuvollziehen, taucht man dennoch in eine ungewohnte Wirklichkeit ein, deren Erscheinungsformen rätselhaft sind und infolgedessen viele Fragen aufwerfen. Es wird schnell offensichtlich, dass hier nichts Selbstzweck ist und alles über sich selbst hinausweist: Alle vordergründigen Bilder Kafkas sind dichterische Metaphern, tiefgründige Sinnbilder, die allerdings auch der Deutung harren, damit sie ihren „verborgenen Hintergrund“ offenbaren.

Als Max Brod 1925 den Prozess-Roman als erstes Werk aus dem Nachlass Kafkas herausgab, löste die einzigartige und faszinierende Bildersprache dieser Dichtung sofort eine Aufsehen erregende, weltweite Reaktion aus. Seither bemühen sich ganze Heerscharen um die Deutung und das Verständnis des zweifellos großartigen Kunstwerks. Durch den gewaltigen Erfolg ermutigt, schrieb Brod 1937 dann die erste Biografie des inzwischen weltberühmten Dichters. Er war bis zu dessen Tod zweiundzwanzig Jahre lang sein engster Freund und intimster Vertrauter gewesen und im Hause der Eltern mitunter täglich ein- und ausgegangen.

Niemand kannte also das persönliche Umfeld Kafkas so gut wie er, vor allem aber wusste niemand mehr über dessen Wesen und geistige Haltung. Deshalb muss man ihm zustimmen, wenn er sagt, es sei Kafkas Hauptziel gewesen, ein vom Geist geprägtes, sinnerfülltes Leben zu führen, um der menschlichen Auszeichnung und Würde gerecht zu werden. Wenn der Dichter dann hellsichtig und aus Furcht, den rechten Weg zu verfehlen, die ungeheuerlichen Gefährdungen, Versuchungen und Ablenkungen in den Mittelpunkt seiner Dichtungen stellt, müssen sie als beschwörende Warnungen erkannt und durchschaut werden, um den „verborgenen Hintergrund“ zu erhellen und damit Kafkas wahrem Anliegen nahezukommen.

Max Brod war der erste, der das einzigartige Genie seines Freundes früh erkannte und sich dann bis zu seinem eigenen Tod 1968 unermüdlich für dessen zweifellos große Kunst einsetzte. Seine Biografie ist zwar ein Werk der Bewunderung, aber auch der Empathie, und atmet glaubhaft den Geist eines Dabeigewesenen und der Wahrheit. Denn der Weltruhm Kafkas hatte nicht gerade dazu beigetragen, seine Werke auch zu verstehen. Lawinenartig hatte sich das Bild seiner Persönlichkeit verdunkelt. Er galt fälschlicherweise nur als der Verzweifelte, der Gequälte, der Zerrissene, der Aussichts- und Hoffnungslose. Empört wies Brod mit Recht diese einseitigen Verzerrungen zurück und hob dagegen die Lichtseiten seines bescheidenen und zurückhaltenden Freundes hervor. Tatsächlich hatte Kafka keine Feinde. Er war beliebt, geschätzt, lachte gern und hatte Humor, ohne jemals seinen besinnlichen Ernst zu verlieren. Sein hohes Ethos bleibt vorbildlich.

Inzwischen kann man der geistigen Welt, wie sie Brod für die Kunstwerke seines Freundes immer beansprucht hat, gerechter begegnen. Das gilt auch für die aufschlussreichen und tiefgründigen Gespräche, die Gustav Janouch mit Kafka geführt hat. Weder bei ihm noch bei Brod finden sich Widersprüche zu dem mittlerweile besser erkannten und richtiger verstandenen groß-artigen Kosmos der Dichtungen Franz Kafkas. Angesicht des bevorstehenden 100. Todestages im Jahre 2024 steht hoffentlich eine Kafka-Renaissance bevor, die den genialen Dichter endlich in dem strahlenden Licht erscheinen lässt, das er verdient.

Übrigens: Die Tragik Max Brods besteht darin, dass er sich einerseits empört gegen das Missverstehen seines Freundes zur Wehr setzen musste, denn er kannte dessen wahre Mentalität besser als alle Universitäts-Gelehrten, die sich mit Kafkas Kunst auseinandersetzten; andererseits hatte er selbst die dichterische Bilderwelt des Künstlers nicht durchschaut und durch seine Kapitelverwechslungen bei der Edition das chaotische Durcheinander irrtümlich und folgenschwer verschuldet.

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