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Organisierte Eugenik

Die EKD hat ein Positionspapier zu Gentests vorgelegt, das in punkto Problembewusstsein und Ernsthaftigkeit keine Wünsche offen lässt, aber auch zeigt: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Von Stefan Rehder
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Foto: Ignat Kozlov (197775411) | pregnant woman closeup of belly with visualisation of baby inside

Anfang 2019 werden die Abgeordneten des Deutschen Bundestags im Plenarsaal unter der Reichstagskuppel eine Orientierungsdebatte zu den umstrittenen Gentests veranstalten. Mit ihnen kann seit einigen Jahren im Blut von schwangeren Frauen nach Trisomien 13, 18 und 21 gefahndet werden. Im Sommer 2016 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ein Methodenbewertungsverfahren eingeleitet, an dessen Ende darüber entschieden werden soll, ob die nichtinvasiven Tests beim Vorliegen einer Risikoschwangerschaft künftig in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) aufgenommen werden. Bislang stellen diese Tests, der erste wurde 2012 in Deutschland zugelassen, eine „individuelle Gesundheitsleistung“ (IGeL) dar und sind daher von den Paaren selbst zu bezahlen.

Als „Risikoschwangerschaft“ gelten Schwangerschaften, bei denen Schwangere zwei von mittlerweile 52 Risikofaktoren aufweisen. Dazu zählen chronische Erkrankungen genauso wie Übergewicht oder Heuschnupfen. Ab einem Alter von 35 Jahren gilt jede Schwangere als Risikoschwangere. Der Grund: Statistisch gesehen besitzen Frauen ab diesem Alter ein höheres Risiko, im Laufe der Schwangerschaft eine Gestose oder Schwangerschaftsdiabetes auszubilden. Auch das statistische Risiko, ein Kind mit Downsyndrom (Trisomie 21) zu bekommen, steigt. Beträgt dieses bei einer 20-Jährigen 1 : 1500, so steigt es bei einer 35-Jährigen auf 1 : 356. Und obwohl in Deutschland rund 97 Prozent aller Kinder gesund auf die Welt kommen, bekommen rund 80 Prozent ihrer Mütter den Vermerk „Risikoschwangerschaft“ in den Mutterpass eingetragen. Ergo: Würden die umstrittenen Gentests in den GKV-Leistungskatalog aufgenommen, erwürben vier von fünf Schwangeren einen Anspruch auf diese Kassenleistung.

Vor diesem Hintergrund bat der Rat der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) die Kammer für Öffentliche Verwaltung unter Vorsitz des protestantischen Theologen Reiner Anselm, Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie und Ethik der Evangelisch-Theologischen Fakultät an der Ludwig-Maximilians-Universität München, eine evangelische Position zu erarbeiten. Anfang November wurde die 44-seitige Stellungnahme, die sich der Rat der EKD, wie Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm im Vorwort schreibt, „zu eigen machte“, der Öffentlichkeit vorgestellt.

Auch wer sich weigert, das Ergebnis, zu dem die Autoren des Positionspapiers kommen, für eine zufriedenstellende Lösung zu halten, wird ihnen – das Bemühen um Fairness vorausgesetzt – zugestehen, dass ihnen weder ideologische Scheuklappen noch Naivität die Hand geführt haben, sondern vielmehr ein nahezu verstörender Realismus. Positiv vermerkt gehört auch, dass die Autoren der Stellungnahme sich für eine Sprache entschieden haben, die an Eindeutigkeit und Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt. So sprechen die Autoren des Positionspapiers – anders als in solchen Kontexten üblich – nicht von „werdendem“, „menschlichen“ oder „vorgeburtlichem Leben“, sondern fast durchgängig vom „ungeborenen Kind“ oder von „ungeborenen Menschen“. Kurzum: Weder mangelt es den Autoren an Problembewusstsein noch an Ernsthaftigkeit. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall. Denn nimmt man das in dem nun offiziellen EKD-Papier Dargelegte für bare Münze, dann empfiehlt die EKD die Aufnahme der nichtinvasiven Bluttests in den Leistungskatalog der Gesetzlichen Krankenkassen, verbunden mit einem von der Solidargemeinschaft ebenfalls zu finanzierenden Beratungsangebot für Paare, um Schlimmeres zu verhüten.

So verschließt die EKD keineswegs die Augen davor, dass die nichtinvasiven Pränataltests (NIPTs) das Potenzial besitzen, „die Wahrnehmung von Schwangerschaft, den Blick auf das ungeborene Kind sowie, allgemeiner, den Umgang mit der Unverfügbarkeit der jeweiligen genetischen Ausstattung tiefgreifend zu verändern“ und zu „weitreichenden Verschiebungen im gesellschaftlichen Wertegefüge“ führen könnten (S. 9f). Offen angesprochen wird auch die Gefahr, dass der flächendeckende Einsatz nichtinvasiver Pränataldiagnostik (NIPD) dazu führen könnte, dass Menschen mit Downsyndrom, die gemeinhin als besonders liebenswürdig und -fähig gelten, künftig gar nicht mehr geboren werden: „Unvereinbar mit unserer liberalen Rechtsordnung und den mit ihr verbundenen Werten, wäre es auch, wenn der verbreitete Einsatz der NIPD schrittweise dazu führte, dass einer ganzen Gruppe von ungeborenen Menschen mit bestimmten Eigenschaften (z.B. mit Trisomie 21) das Recht auf Leben verwehrt würde“ (S. 10). Sogar die Möglichkeit, die NIPTs ihres eigentlichen Zweckes zu entheben und zu einem Mittel der Geschlechtsselektion umzufunktionieren, wird erkannt und thematisiert: „Die Sensitivität der Tests ist so hoch, dass Ergebnisse bereits vor Ablauf der Zwölf-Wochen-Frist für einen Schwangerschaftsabbruch bei psychosozialer Notlage vorliegen können und die schwangere Frau Selektionsgründe wie etwa das Geschlecht des ungeborenen Kindes nicht offenlegen müsste“ (S. 19).

Nur führt all das für die EKD eben nicht dazu, eine Aufnahme von NIPTs in den Leistungskatalog der GKV abzulehnen. Vielmehr befürwortet sie genau dies unter der Voraussetzung, dass Paaren, die von den Tests Gebrauch machen wollen, vor deren Durchführung eine „psychosoziale, dem Lebensschutz verpflichtende Beratung“ (S. 7) angeboten wird.

Auch wenn kritisch hinterfragt werden muss, ob die Gründe, die die EKD zu dieser „konditionierten Zustimmung“ (S. 7) veranlassen, derart schwer wiegen, dass sie eine Aufnahme von NIPTs in den GKV-Leistungskatalog rechtfertigen, so sind sie jedenfalls nicht von Pappe. Dabei führen die Autoren des Positionspapiers zunächst einen Umstand ins Feld, der schon bei der Zulassung der Tests eine Rolle spielte. Mehr noch: Die Entwicklung des vom Marktführer Lifecodexx, einer Biotech-Schmiede mit Firmensitz in Konstanz, angebotenen „Pränatests“ wurde mit dieser Begründung sogar vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie finanziell gefördert. Und die geht so: Methoden der Pränatalen Diagnostik sind seit rund drei Jahrzehnten fester Bestandteil der Schwangerenvorsorge. Bei entsprechenden medizinischen Befunden werden ungeborene Kinder auch mit diesen auf Trisomien getestet. Während Chromosomenstörungen wie die Trisomien 13 und 18 in aller Regel als mit dem Leben unvereinbar gelten, weshalb Kinder, die mit diesen Trisomien geboren werden, zumeist nach wenigen Tagen oder Wochen versterben, ist das bei Menschen mit Trisomie 21 anders. Sie erreichen trotz mancher körperlicher und geistiger Einschränkungen oft ein vergleichsweise hohes Alter und können ein sie selbst und andere beglückendes Leben führen.

Die Methoden, die bislang zur Erkennung solcher Trisomien verwendet werden, sind jedoch invasiv und bergen ein nicht zu vernachlässigendes Risiko. So endet statistisch gesehen jede hundertste Fruchtwasseruntersuchung mit einer Fehlgeburt. Dabei durchsticht der Arzt unter Ultraschallansicht mit einer Hohlnadel die Bauchdecke und die Gebärmutterwand der Schwangeren und entnimmt etwa 15 bis 20 ml Fruchtwasser aus der Fruchtblase. Anschließend werden im Labor die im Fruchtwasser schwimmenden fetalen Zellen isoliert, aufbereitet und untersucht.

Verglichen damit sind die NIPTs, bei denen lediglich der Mutter Blut abgenommen wird, tatsächlich risikoloser. Allerdings ist ihre Aussagekraft so begrenzt, dass sie eine Fruchtwasseruntersuchung bislang nicht ersetzen können und positive Befunde stets mittels einer invasiven Untersuchung überprüft werden. Dass dies ein eher schwaches Argument für die Aufnahme von NIPTs in den GKV-Leistungskatalog darstellt, ist auch der EKD bewusst. Denn die Autoren der Stellungnahme formulieren hier ausdrücklich konditional: „Wenn die NIPD die Möglichkeit bietet, ebenso zuverlässige Informationen bei einem niedrigen Risiko für die Schwangere und das Ungeborene zu erhalten, lassen sich durchaus Argumente dafür benennen, diese Form der Pränataldiagnostik den bisher üblichen invasiven Methoden vorzuziehen und sie in den Leistungskatalog der GKV aufzunehmen“ (S. 12).

Weit schwerer wiegt das andere von der EKD ins Feld geführte Argument. Dieses ist der Tatsache geschuldet, dass Schwangere und Paare NIPD-Sets im sogenannten „Direct-to-Consumer-Verfahren“ längst über das Internet erwerben können. Anstatt einen Arzt zu konsultieren, entnimmt sich die Schwangere dabei eigenhändig Blut und sendet dieses per Post an ein oft ausländisches Labor, das ihre Blutprobe analysiert und ihr das Ergebnis mitteilt. Nach Ansicht der EKD kann „die Möglichkeit, eigenständig eine Testung des ungeborenen Kindes auf eventuelle Anomalien in Auftrag zu geben“ zu einer „Privatisierung der NIPD“ führen. Ein solches Szenario heble auch die Vorschriften des Gendiagnostik-Gesetzes aus, da diese „nur im Rahmen einer vom Arzt eingeleiteten Untersuchung zur Anwendung“ kämen (S. 18).

Mit anderen Worten: Um eine „Eugenik von unten“ einzuhegen, will die EKD die NIPD über die Aufnahme in den GKV-Leistungskatalog für Paare kostenlos gestalten und mit dem Angebot einer psychosozialen Beratung garnieren. Damit soll verhindert werden, dass sich Paare auf der Suche nach dem günstigsten Angebot im Netz aus dem vergleichsweise teuren Arzt-Patienten-Verhältnis lösen und für eine Beratung unerreichbar werden, die eine seriöse Aufklärung ermöglicht und zudem garantieren soll, dass auch die Rechte des ungeborenen Kindes in den Blick genommen werden.

So nobel das klingt, so edel die Motive und so aufrichtig die dahinterstehenden Sorgen auch sein mögen, zustimmen kann man dieser EKD-Position nicht. Der Staat darf einer „Eugenik von unten“ nicht dadurch begegnen, dass er sie in staatlich geordnete Bahnen zu lenken sucht und ihre Kosten der Solidargemeinschaft der Krankenversicherten aufbürdet. Mag man auch darüber streiten können, in welchem Umfang der Staat verpflichtet ist, seine Werteordnung gegenüber Andersdenkenden durchzusetzen und welcher Mittel er sich dabei jeweils bedienen darf, unstrittig sollte jedoch sein: Ein Staat, der Verstöße gegen die eigene Wertordnung nicht bloß hier und da toleriert, sondern selbst organisiert und sei es „nur“, um noch weitreichenderen Verstößen das Wasser abzugraben, führt sich nicht bloß selbst ad absurdum. Er beerdigt die Werteordnung, zu deren Schutz er da ist, auch gleich selbst.

Statt sich von „Direct-to-Consumer-Angeboten“ beeindrucken und sich von dem tödlichen Egoismus in Geiselhaft nehmen zu lassen, der sich in der sich ausweitenden „Eugenik von unten“ Bahn bricht, muss der Staat nach geeigneten Gegenmaßen Ausschau halten. Eine wirksame könnte sein, pränatale Tests nur noch für Erkrankungen zu erlauben, für die es bereits Therapien gibt. Vor allem aber muss der Staat dafür Sorge tragen, dass seine Werteordnung den eigenen Bürgern auch vermittelt wird. So müssten Schulen und Universitäten Schülern und Studenten wieder deutlicher machen, dass Eugenik kein Gespenst ist, das mit Ende des II. Weltkriegs überwunden wurde, sondern eine verabscheuungswürdige allgegenwärtige Realität. Eine, die nicht nur das allen Menschen zukommende Recht auf Leben mit Füßen tritt, sondern auch den Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen negiert.

Und hier schließt sich der Kreis. Zwar liest es sich hervorragend, wenn die Autoren der EKD-Papiers festhalten: „Die bedingungslose Annahme des Menschen durch Gott spiegelt sich daher nach christlicher Überzeugung in der Anerkennung, die wir uns gegenseitig als Menschen schulden“ (S. 15). Doch anstatt solche Sätze in einer an Experten gerichteten Stellungnahme zu „verstecken“, müssten sie heute wieder von jeder Kanzel verkündet und erläutert und an jeder kirchlich getragenen Akademie in geeigneter Weise gelehrt und durchbuchstabiert werden. So – und nur so – lässt sich einer „Eugenik von unten“ das Wasser abgraben.

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