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Christopher Dawson: Mission Europa

Christopher Dawsons katholische Perspektive auf die Kulturgeschichte. Von Michael K. Hageböck
Christopher Dawson
Foto: dpa

Christopher Dawson (1889–1970) gehört zu den publizistisch wirksamen Konvertiten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die im Nachkriegsdeutschland bis zur Studentenrevolution 1968 eine breite Leserschaft ansprechen konnten, heute aber nahezu vergessen sind. Kein englischer Kulturhistoriker seiner Zeit war bedeutsamer als Dawson; T.S. Eliot wurde in gesellschaftlichen Fragen von niemandem mehr beeinflusst; David Jones ließ sich bei seinem Hauptwerk „Anathemata“ maßgeblich von Dawson inspirieren; C.S. Lewis entnahm die Argumente für „Die Abschaffung des Menschen“ aus Dawsons „Die wahre Einheit der europäischen Kultur“ und J.R.R. Tolkien zitiert dieses Werk zweimal in seinem Essay „Über Märchen“. Jahrzehntelang besuchten Dawson und Tolkien die gleiche Pfarrei in Oxford. Während der eine Weltruhm erlangte, kennen den anderen nur wenige.

Im englischen Sprachraum veröffentlichte Stratford Caldecott 1997 den Sammelband „Eternity in Time. Christopher Dawson and the Catholic Idea of History“ und zehn Jahre später Bradley J. Birzer die Monographie „Sanctifying the World. The Augustinian Life and Mind of Christopher Dawson“. Eine Auseinandersetzung mit Dawson findet man hierzulande bei Johannes Tröger: „Kulturkritik und Utopie: Das Denken rechter katholischer Intellektueller in Deutschland und Großbritannien 1918–1939“ sowie in Bernhard Dietz' Aufsatz: „Christliches Abendland gegen Pluralismus und Moderne: Die Europa-Konzeption von Christopher Dawson“.

Dietz setzt sich mit Christopher Dawsons „Die Gestaltung des Abendlandes“ (The Making of Europe) auseinander, welches in Deutschland als einziges seiner Bücher mehrere Auflagen erlebte (1935, 1950, 1967). Dieses Werk verdient in der Tat besondere Aufmerksamkeit. Es liefert nicht nur eine „originelle Perspektive“, wie Dietz kritisch-distanziert attestiert, sondern legt die kulturellen Wurzeln unseres Kontinents auf eine Weise dar, die in der Mitte des letzten Jahrhunderts nahtlos an der Allgemeinbildung anzuknüpfen vermochte, heutzutage aber einige geistige Klimmzüge erfordert.

Wer hat tatsächlich das Wessobrunner Gebet oder den Heliand präsent? Wer unterhielt sich je mit Freunden über Prudentius, Cynewulf, Alexander von Aphrodisias oder Gerbert von Aurillac? Historiker wie Edward Gibbon bezeichnen die Epoche der Angelsachsen als „Dark Ages“, weil die Quellenlage dunkel sei; Christopher Dawson hingegen hält die Ära der Christianisierung Englands – und damit verbunden die Missionierung Europas – für das Fundament unseres Kulturkreises, für eine Goldgrube bei der Suche nach dem Eigenen.

Wie barbarische Stämme durch Annahme des christlichen Glaubens zu einem Teil des Orbis Terrarum wurden und umgekehrt die sich im Zusammenbruch befindliche Zivilisation der Römer nicht nur verjüngte, sondern auch im katholischen Glauben erblühte, damit setzten sich David Jones, J.R.R. Tolkien und Christopher Dawson ihr Leben lang auseinander. Obwohl die Germanen wiederholt Rom eroberten, nahmen die Sieger die Kultur des Verlierers auf. Obwohl das Evangelium vom Morgenland über Rom zu den Völkern des Nordens weitergetragen wurde, korrumpierte er nicht. Obwohl die Antike unterging, blieb ihr geistiges Erbe erhalten. Für Dawson ist das Abendland die im Mittelalter faktisch realisierte Einheit der europäischen Völker in einem Bekenntnis, welches verschiedene Gemeinschaften zum Teil eines neuen Ganzen macht, ohne deren Tradition auszulöschen, sondern vielmehr deren Identität vollendet, indem er sie in den mystischen Leib Christi, die Kirche, eingliedert.

Abendland meint das Aufblühen des Katholizismus in germanischen Siedlungsgebieten. Aufgrund der Weisung Papst Gregors des Großen entsorgte das Evangelium nicht die heimische Lebensart, sondern erschloss den tieferen Sinn ihrer Sehnsüchte und ihrer Ausdrucksformen, belebte und aktualisierte sie, deutete und erklärte ihre Bräuche, verwandelte und erfüllte ihre Überlieferungen, bediente sich ihrer Sprache, entfaltete ihre eigentliche Berufung, nahm den paganen Völkern den Schleier von den Augen und machte aus der Offenbarung des Alten Testaments eine Frohe Botschaft für die ganze Menschheit.

„Rom riss das Abendland aus seiner barbarischen Einzelhaftigkeit heraus und gliederte es in die kultivierte Gemeinschaft der Mittelmeerwelt ein.“ Die Lateinische Sprache ist nach Dawson eine „Arche, die die Saat der griechischen Kultur durch die Sintflut der Barbarei zu tragen vermochte“. Auf den Straßen des Imperiums wurde das Evangelium verbreitet. Während die Kelten von sich aus mit Rom verschmolzen, bedurfte es bei den Germanen des Christentums, um Teil der Kultureinheit, der Oikoumene, zu werden. „Gegenüber dem imperium und der ecclesia sind sie die gentes, die Quelle der Volkschaft im Leben des Abendlandes.“ Das klassische Schrifttum jenseits und das Freiheitsstreben diesseits der Alpen formte eine Geisteshaltung im Miteinander unterschiedlicher Lebensweisen, beförderte ein Denken, welches verschiedene Pole umgreift, wurde zum Nährboden des katholischen „et/et“. Gebet und Arbeit, Gott und Mensch, Ewigkeit und Zeit, Geist und Materie brauchten nicht mehr als widerstreitende Gegensätze verstanden werden, sondern wurden analektisch verspannt.

Keineswegs durch militärisches Geschick, sondern durch Mission vereinte sich der Norden mit dem Westen. Zweifelsfrei ist die Lebensauffassung der Edda rau; dennoch attestiert Dawson den Walküren eine gewisse Geistigkeit, die er in der homerischen Welt vergeblich suche. Hier werde nicht wie bei den Griechen der Versuch gemacht, das Verhalten der Götter zu rechtfertigen, vielmehr seien die Götter selbst Mitspieler im heldischen Drama, widerstritten im ewigen Kampf den Mächten der Finsternis, ohne zu siegen. Erfolg sei kein letzter Maßstab. Diese Haltung, wie sie Tolkien in seinem Essay über Beowulf bewundernd beschreibt, machte die Wikinger zu herausragenden Kämpfern für das Christentum. „Das Rittertum versinnbildlichte die Vereinigung nordischer und christlicher Überlieferungen in der Einheit des Mittelalters.“ Abstammung, Glaube und Geisteshaltung standen nach Dawsons Auffassung nicht in Konkurrenz, seien keine disparaten Töne, sondern bildeten eine Harmonie. Der mittelalterliche Mensch war weder von rivalisierenden Aspekten seines Daseins zerrissen, noch musste er verschiedene Weltsichten versöhnen, sondern wusste sich mit jeder Faser des Seins mit Gott im Einklang. Statt Patchwork war sein Selbstbild aus einem Guss.

Die Zerstückelung des Ganzen ist nach Dawson ein Werk der Neuzeit. Renaissance, Reformation, Aufklärung, Französische Revolution und die Ideologien des Fortschritts waren Friktionen, die ein zwiespältiges Verhältnis zur eigenen Identität bedingten. Taugte die Bibel als alleiniger Referenzpunkt? Inwiefern konnte man sich dann mit der Antike identifizieren? Welche Rolle spielte das Vaterland? „Erst im neunzehnten Jahrhundert wurde die lebendige Wichtigkeit des volksmäßigen Anteils an der abendländischen Kultur voll erkannt. Dann kam schließlich die alle Grenzen überflutende Gegenwelle, und der neue Strom des romantischen Nationalismus verführte gewisse Schriftsteller, die klassischen und christlichen Bestandteile in unserer Kultur zu unterschätzen und alles von der ursprünglichen Kraft des Nationalgeistes abzuleiten.“

Die Verdienste der nordischen Völker sind weder Runensteine noch Moorleichen, sondern die Errichtung von Klöstern, die Gründung von Universitäten und die Erbauung von Kathedralen. Ohne die Gestaltungskraft der Kirche hätten die Germanen ihre Lagerfeuer solange auf den Boden-Mosaiken zerfallener Römer-Villen abgebrannt, bis diese zur Unkenntlichkeit entstellt worden wären. Ohne das Denken der Griechen hätten sie nie einen Ausweg aus dem Labyrinth ihrer Grübelei gefunden, welches sich wie ihre Flechtmuster unendlich wand, dann aber befähigte, die Bibel mit Aristoteles zu verteidigen.

Unsere Ahnen bereiteten der Wissenschaft und der ritterlichen Hochachtung gegenüber Frauen den Weg. Nirgendwo sonst wurden Gott und Welt so formvollendet auf die Leinwand gebracht. Keine andere Kultur schuf solche Klanggemälde wie das Abendland. Entgegen dem Relativismus des Multikulti (der alle Fäden unserer Existenz verwirft, statt sie in der Hand zu behalten), waren die verschiedenen Stränge unserer Kultur im Mittelalter zu einem festen Seil verknüpft.

Dawsons „The Making of Europe“ wird zu Recht mit „Gestaltung des Abendlandes“ übersetzt, denn mit der Bezeichnung „Abendland“ meinten deutschsprachige Katholiken nach dem ersten Weltkrieg den Kulturkreis des Sacrum Imperiums, vom dem sich der von der Aufklärung her geprägte „Europa“-Entwurf abgrenzte. „Abendland“ war angesichts der Völkerschlachten eine Rückbesinnung auf ein gemeinsames Bekenntnis, wie es vor der konfessionellen Zersplitterung der Völker in romanisch-katholische, germanisch-protestantische und slawisch-orthodoxe Siedlungsgebiete als Basis für ein gelingendes Miteinander viele Jahrhunderte Bestand hatte.

Wer sich an die Lektüre des vergessenen Schriftstellers wagt, wird heute womöglich ebenso wie der damals 20-jährige Dawson, als er während der Osterferien Rom besuchte, vom Erbe unserer Geschichte überwältigt. Auf den Stufen des Kapitols schwor er sich 1909, über das Werden der abendländischen Kultur zu schreiben. Obwohl in der anglikanischen Tradition aufgewachsen, las er schon früh die Bücher von Benson und de Maistre, die Werke des seligen John Henry Newman und des heiligen Augustinus, Péguy ebenso wie Claudel, Belloc, Chesterton sowie von Goerres.

1914 konvertierte Christopher Dawson in St. Aloysius (Oxford) zur Katholische Kirche und heiratete zwei Jahre später eine fromme Frau aus der Pfarrei. Seiner akademischen Laufbahn war das religiöse Bekenntnis eher hinderlich. An der Universität bekam er zunächst nur eine Anstellung auf der Poststelle, eine Professur in Leeds wurde abgelehnt – vermutlich auch wegen seiner zurückgezogenen Art. Neben seiner publizistischen Tätigkeit gab Dawson als Privatdozent Vorlesungen für Kulturgeschichte in Exeter (1930–36) und für Religionsphilosophie in Liverpool (1934). Von 1940 bis 1956 war er Herausgeber der Dublin Review, für die er auch J.R.R. Tolkien gewann („Ein Blatt von Tüftler“, 1945) und in der schon Kardinal Newman veröffentlicht hatte.

Dawson gab unter anderem Übersetzungen von Theodor Haeckers „Vergil, Vater des Abendlandes“ sowie Carl Schmitts „Römischer Katholizismus und politische Form“ heraus und schrieb dazu jeweils das Vorwort. Erst 1958 wurde er ordentlicher Professor, nämlich Inhaber des eigens für ihn geschaffenen Lehrstuhls für römisch-katholische Studien an der Universität Harvard. Nach einem Schlaganfall 1962 musste Dawson diese Tätigkeit wieder aufgeben, kehrte halbseitig gelähmt nach England zurück und fiel 1970 ins Koma. Ohne wieder das Bewusstsein zu erlangen, richtete er sich noch einmal im Bett auf und sagte: „Es ist Dreifaltigkeitssonntag. Ich sehe alles und es ist schön.“

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