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„Ich war nicht allein“

Der Schweizer Schriftsteller Thomas Hürlimann zählt zu den großen deutschsprachigen Gegenwartsautoren. Das Kreuz ist für ihn sehr wichtig. Von Gudrun Trausmuth
Thomas Hürlimann ,  Schriftsteller
Foto: dpa | Der Schriftsteller Thomas Hürlimann hat die Hoffnungskraft des Kreuzes in einer schwierigen Lebenssituation erfahren.
Sie haben für Ihre Poetikdozentur an der Universität Wien einen starken Titel gewählt: „Feuerschlag vom Himmel – das Kreuz in der Literatur“ – was ist der Hintergrund dieses Bildes?

Es geht zurück auf P. Cassian, meinen vor zwei Jahren verstorbenen Religionslehrer in der Klosterschule in Einsiedeln. P. Cassian war Mönch, Benediktiner, aber vor allem auch Naturwissenschaftler. Was Wunder oder was religiöse Gefühle anging, war er eher skeptisch. Als Wissenschaftler hat er auch dem „Einmaligen“ misstraut: Was wissenschaftlich erfahrbar ist, muss sich wiederholen, erst dann wird es ein physikalisches oder mathematisches Gesetz. Und dieser P. Cassian machte als älterer Mann eine Wanderung in Tirol, und geriet in ein Gewitter hinein. Da sah er plötzlich auf dem Berggipfel, der aus dem Gewitter heraustrat, ein rauchendes Kreuz: In ein Gipfelkreuz hatte der Blitz eingeschlagen. In diesem Christus, den P. Cassian dann sah, noch rauchend, verkohlt, zerstört, schwarz, hatte er jene Begegnung, die ihm sagte, dass es richtig war, sein Leben im Kloster zu verbringen. Es war schon relativ spät und das Leben P. Cassians war voller Zweifel und dadurch nicht einfach – aber dann hat er plötzlich diese Berührung von der anderen Seite her erlebt. Ein oder zwei Jahre vor dieser Wanderung, 2007, hat P. Cassian in meinem „Einsiedler Welttheater“, das ich von Calderon umgeschrieben habe, die Figur des „el autor“, also den Calderon, gespielt. Das war eine große Aufführung mit 300 Leuten vor der Kulisse des Klosters. Und in diesem „Einsiedler Welttheater“ gab es ein Zwischenspiel, das in der Pestzeit verortet ist: eine Theatergruppe tritt auf, die ein Kreuz errichtet und an diesem Kreuz hängt der Tod. Eigentlich ein frommes Bild, dieser Tod, der am Kreuz stirbt. Damals entstand aber eine spannende Diskussion: Die alten Patres des Einsiedler Klosters plädierten vehement für diese Szene, aber der moderne Katholizismus, der da im Publikum saß, der hat das Kreuz abgelehnt. Ja, und der „Feuerschlag“ aus dem Titel der Vorlesung fasst das eigentlich zusammen, dass das Kreuz ein Zeichen ist, durch das uns ein religiöses Phänomen begegnen kann oder als Phänomen entgegentritt, dass sich etwas zeigen kann, das von der anderen Seite her auf uns zukommt.

Ein starkes Motiv der Poetikvorlesung war, dass das Kreuz als Zeichen seinen Platz in unserer Gesellschaft verliert. Woran machen Sie diese Diagnose fest?

Als ich Kind war, da hat uns die Mutter immer ein Kreuzzeichen gemacht, bevor wir das Haus verließen. Oder bevor sie das Brot angeschnitten hat, hat sie auf dem Brot mit der Hand oder mit dem Messer kurz ein Kreuz gezeichnet. Für mich war das Kreuz auf diese Weise ein ganz alltägliches Zeichen. Jahre später war ich bei meiner Schwester, und ihr 5-jähriger Sohn schmiss das Brot, das er nicht mochte, in die Ecke, woraus ein interessantes Gespräch mit meiner Schwester entstand: „Das hätten wir nie gemacht, denn Brot war ja von der Mutter gesegnet wie wir auch.“ Und meine Schwester meinte darauf, Gott sei Dank hätten wir diese Magie und diesen letztlich faulen Zauber hinter uns! Worauf ich – eigentlich für mich selbst überraschend – gesagt habe: „Nein, nicht Gott sei Dank, sondern das ist eigentlich ein ganz großer Verlust.“ Damals konnte ich das noch gar nicht benennen, aber das war so ein Einstieg: Was passiert, wenn dieser Segen plötzlich fehlt? Wenn wir die Zusammenhänge zwischen der Erde und dem Himmel nicht mehr auf selbstverständliche Weise kennenlernen? Wir verlieren dann völlig den Zusammenhang mit dem Transzendentalen, ob das jetzt eine Oberwelt oder eine Unterwelt ist. Wir schließen uns ganz und gar im Innerweltlichen ein. Und das halte ich für einen Verlust.

Das Kreuz rezipieren Sie stark in seiner Abgründigkeit, als das Zeichen des Todes, das wir nicht mehr aushalten. Sie aber haben auch gesagt, wir verlieren die Möglichkeit „aufzusteigen“, wenn das Kreuz verschwindet. Sehen sie auch die befreiende Botschaft des Kreuzes, dass es die „Himmelsleiter“ für uns ist?

Ja, das gehört ja zusammen, das Kreuz ist sozusagen das Zeichen, das in alle vier Richtungen des Koordinatensystems weist, also in die Horizontale und in die Vertikale. Wie Ernst Jünger sagt, stellt uns das Kreuz in die Mitte dieses Koordinatensystems, das heißt aber, wenn wir dieses Koordinatensystem nicht mehr haben, dann verlieren wir unseren Ort. Wo stehen wir, wenn wir dieses alte Zeichen verlieren? Dann verlieren wir uns auf dieser Kugel, die der Planet ist. Die Ortlosigkeit, die Heimatlosigkeit, auch im metaphysischen Sinn, macht uns Menschen nicht glücklich, davon bin ich überzeugt.

Mich erinnert das an das „Wegkreuz“ in Adalbert Stifters „Bergkristall“, das zerbrochen ist und deshalb nicht mehr orientiert. Wenn wir also das Kreuz nicht mehr sehen, es nicht mehr Orientierung sein lassen, verlieren wir den Ort...

Und die Kinder in „Bergkristall“ verirren sich dann auch im Schneesturm, eine prophetische Erzählung…

Die Literatur scheint also manchmal einen Platz einzunehmen, der in der Wirklichkeit durch das Religiöse oder durch das Zeichen oft gar nicht mehr besetzt ist. Die Literatur weist auf eine vertikale Dimension hin, die zunehmend verloren geht.

Man sieht das ja allenthalben. Etwa wie die Weihnachtszeichen sich ändern, dass dann plötzlich Elche und der amerikanische Weihnachtsmann da sind. Das grassiert mittlerweile auch in Schweizer Alpentälern und da geht natürlich auch eine Orientierung in die Tiefe der Zeiten verloren, in unserer Kultur. Da sind wir plötzlich an dieser Plastikoberfläche und wissen gar nicht, was das für Geschichten sind. Dass an diesem Weg auch Adalbert Stifter und viele andere sind, das können wir plötzlich gar nicht mehr sehen, weil wir den Wegweiser verloren haben, der da aber in eine kulturelle Tiefe geht. Die Vertikale steigt ja eigentlich auf aus den Mythen aus der Tiefe der Zeiten und geht dann bis zu den Sternen, wie das eigentlich auch Kant und Goethe verstanden haben. Und diese vertikale Dimension, die ist heute in der Schule, im Bildungssystem, eigentlich weg. Die Kinder sind ja nicht dümmer, aber sie leben einfach dann in der Horizontalen. Sie wissen, was in Japan passiert, sie kennen die neuesten Rockgruppen aus England und aus den Vereinigten Staaten, aber sie haben das Koordinatensystem verloren, und das ist eine gewisse Schwierigkeit, weil sie diese Dinge auch nicht an einem kulturellen Maßstab messen können. So sind sie abhängig vom Event, oder von dem, was der Zeitgeist eben gerade für richtig erklärt. Und da kann man nur hoffen, dass der Zeitgeist nicht allzu dümmlich ist….

Wenn das „Koordinatensystem“ verloren geht, ist der Ausgangsort unsicher und erst recht der Zielort. Und wenn wir keinen Ort, keinen festen Bezugspunkt mehr haben, dann schwächt dies auch das Wort. Ist die Sprache noch in der Lage, das Lesen der Wirklichkeit zu vollziehen?

Die Literatur muss alles tun, um Verlorengehendes festzuhalten. Das war immer eine Aufgabe der Literatur, das hat sie immer gemacht. Aber es wird tatsächlich schwieriger. Ich war im Jahr 2001 Dozent am Literaturinstitut in Leipzig, und in einem Text kamen Jonas und der Wal vor; und ich musste plötzlich feststellen, dass von den 20 Leuten im Seminar zehn Studierende nicht den geringsten Zugang zu diesem Wal hatten, und natürlich auch nicht mehr zum Leviathan und so weiter. Da bricht dann eine ganze Bilderwelt weg! Literatur hat zwei Möglichkeiten damit umzugehen: Entweder sie lässt das dann auch weg, dann wird sie auch einfacher verstanden; oder sie versucht, gerade auf diesen Bildern zu bestehen, um die Leute wieder hereinzuholen. Ich glaube, das ist ein sehr alter Kampf, und für die Literatur ist er bis zu einem gewissen Grad auch spannend, aber ich merke selber, bei Lesungen oder sehr oft auch bei Semesterarbeiten oder Diplomarbeiten, wenn per email Anfragen kommen: Das sind sehr oft Verständnisfragen der einfachsten Art, die aber immer diese religiöse Dimension betreffen. Was für mich noch ganz selbstverständlich ist, womit man gelebt hat, mit dem Alten und dem Neuen Testament, das alte Griechenland ... – all das ist gefährdet! Manchmal bin ich wütend darüber, manchmal traurig, denn das ist schlimmer als der Bibliotheksbrand von Alexandria, wenn wir den Zugang zu dieser gewaltigen Bilderwelt nicht mehr haben. Dann wird schlicht und einfach auch unsere jetzige Welt unverständlich.

Wir sind im Wirkkreis des Pfingstfestes. In der Apostelgeschichte heißt es „ein jeder hörte sie in seiner Sprache reden“? Gibt es das noch, hat die Sprache noch diese Kraft, den Einzelnen zu treffen, oder sind wir in der Inflation des Wortes, im Geräuschraum, in dem wir leben, einfach schon abgestumpft für das Wort und für seine sinngebende Bedeutung?

Ich glaube, wenn man in gewisse Bücher einsteigt wie in ein Höhlensystem oder wie in ein Bergwerk oder in das Kunstgebilde eines Gedichts, dann wird man plötzlich vom Wort berührt, dann wird es wieder zum Phänomen: dann zeigt sich etwas, aber das setzt natürlich eine gewisse Arbeit voraus. Ich habe mir einmal einen Sommer mit Jean Paul verordnet. Jean Paul war einmal der meistgelesene Autor seiner Zeit, und ich brauchte Tage und Wochen, bis ich mit diesen Satzgebilden halbwegs zurechtkam, bis ich ein fähiger Leser dieser Sprache war, die absolut großartig ist, aber für uns heute schon fast zu schwierig. Aber, man kann so ein Schiff besteigen. Ein anderes Beispiel: Nach einer Operation mit einer langen Anästhesie wollte ich die Schwester ansprechen und dachte noch, man sagt ja heute nicht mehr „Schwester“, und da sagte ich: „Sie, Joghurt.“ Sie lachte, und ich meinte, mit meiner Sprache scheine etwas nicht zu stimmen. Es hat sich dann rasch gebessert, aber von dem Augenblick blieb diesbezüglich immer eine gewisse Angst. Relativ lange konnte ich nur liegen und so habe mir verordnet, täglich bis zu einer Stunde Dantes „Göttliche Komödie“ zu lesen. Nach einigen Wochen ist das zur Lust geworden, da hab ich gemerkt, das ist jetzt die schönste Zeit des Tages: Ich steh auf und dann steig ich da in die Hölle und dann später zum Paradies… Aber wie gesagt, das ist nicht so ohne Weiteres zu bekommen, man muss tatsächlich etwas dafür tun, aussteigen aus diesem flachen Gerede der Jetzt-Zeit, da betritt man dann Wort-Kathedralen; das hat tatsächlich mit einem Pfingsterlebnis zu tun.

Religion kommt ja vom Wort „religio“, Bindung. Sie haben im Zuge der Wiener Poetikvorlesung in Bezug auf das Religiöse oft das „Phänomen“ betont: etwas zeigt sich, kommt auf den Menschen zu; gerade für das Religiöse in der Literatur haben Sie dies als wesentlich und auch als Qualitätsmerkmal literarischen Umgangs mit dem Religiösen herausgearbeitet. Existiert demgegenüber Religion in der Wortfunktion einer „Bindung“ für Sie?

Das ist schwierig zu beantworten. Ich habe bei mir die Bindung im Zusammenhang mit einer Krankheit, einer Krebsdiagnose festgestellt. Am Vorabend einer schwierigen Operation stellte ich plötzlich fest: „Ich bin viel ruhiger, als ich sein müsste.“ Vielleicht von alten Zeichen her, vielleicht das Kreuzzeichen der Mutter, bevor man aus der Tür ging? In dieser Nacht vor der Operation habe ich das jedenfalls für mich so verstanden. Ich dachte, da ist ein Tor, vielleicht kehre ich zurück, vielleicht nicht, aber da ist jetzt vor mir auf jeden Fall eine Schwelle und diese Schwelle werde ich in irgendeiner Weise überschreiten und auf eine ganz naive Weise ist mir dieser frühere Gang aus der Haustür wieder in den Sinn gekommen mit dem Kreuzzeichen. Das heißt, ich war nicht allein, da fühlte ich mich aufgehoben, getragen. Ich habe dann, als ich wieder aus dem Krankenhaus war, dieses wunderschöne Rilke-Gedicht gelesen „Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“ Ich hatte die Gnade, in diesem Fallen, vor diesem Abgrund, die Hand zu spüren.


Hintergrund:

2016 hat der Wiener Dogmatiker Jan-Heiner Tück eine Poetikdozentur ins Leben gerufen, bei der zeitgenössische Autoren über die Bezüge und Interferenzen von Literatur und Religion nachdenken. Im Mai 2017 bestritt der Schweizer Autor Thomas Hürlimann (geb. 1950) unter dem Titel „Feuerschlag vom Himmel – das Kreuz in der Literatur“ die Poetikdozentur an der Universität Wien. Hürlimann wurde unter anderem mit Prosawerken wie „Die Tessinerin“ (1981), „Der grosse Kater“ (1998), „Fräulein Stark“ (2001), „Vierzig Rosen“ (2006) bekannt sowie mit dramatischen Werken, vor allem seiner zweimaligen (2000 und 2007) Bearbeitung von Calderóns „El gran teatro del mondo“. GT

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