Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung

Freiwillig nach Auschwitz

Überleben gelang nur durch Freundschaft – Das Schicksal des großen polnischen Widerstandskämpfers Witold Pilecki. Von Michael Leh
Foto: IN | Der polnische Widerstandskämpfer Witold Pilecki.

Niemand, der das Buch „Freiwillig nach Auschwitz“ gelesen hat, wird Witold Pileckis Bericht je vergessen. Es ist schwer zu begreifen, dass dieser große polnische Held außerhalb seiner Heimat weithin unbekannt geblieben ist. Bis zum Jahr 1990 wurde sein Name allerdings auch in Polen verschwiegen, denn der Kämpfer gegen die Nazis war zugleich auch ein Gegner der polnischen Kommunisten, die ihn 1948 nach einem Schauprozess und schweren Folterungen mit Genickschuss hinrichteten. „Der Tod des Hauptmanns Pilecki“ (Smierc Rotmistrza Pileckiego) heißt ein polnischer Spielfilm aus dem Jahr 2006 mit Marek Probosz als Pilecki in der Hauptrolle. Darin geht es nur um diesen Schauprozess und das schreckliche Ende dieses unglaublich mutigen polnischen Patrioten und Freiheitskämpfers.

Im Jahr 1995 wurde Pilecki posthum mit dem Orden Polonia Restituta, 2007 mit dem Weißen Adlerorden und 2009 mit der Ehrenbürgerwürde Warschaus geehrt. In Warschau, Zabrze und Zakrzow sind Schulen nach ihm benannt, in Auschwitz trägt auch eine Berufshochschule seinen Namen. Pileckis Kinder Zofia und Andrzej leben noch hochbetagt. Seine Frau Maria verstarb 2002.

Schauspieler Marek Probosz, der Pilecki in dem genannten Film hervorragend verkörpert, erzählte in einem Interview, wie er kaum in der Lage war, die Szene vom Abschied Pileckis von seiner Frau im Gefängnis zu spielen, da er immer wieder in Tränen ausbrach. Probosz betonte: „Sie haben ihn getötet, aber seine Ideale haben gewonnen. Polen ist eine freie Nation. Die Kommunisten haben versucht, die Erinnerung an ihn aus der Geschichte auszuradieren, aber das ist gescheitert.“ Probosz wies auch darauf hin, dass Pilecki ein sehr spiritueller Mensch war. Pilecki habe die „Nachfolge Christi“ von Thomas a Kempi gelesen und Maria gebeten, ihre Kinder entsprechend zu erziehen. In den USA ist der Film „Der Tod des Hauptmanns Pilecki“ mit englischen Untertiteln bereits mehrfach erfolgreich gezeigt worden.

Der 1901 geborene Kavallerieoffizier Witold Pilecki ist der einzige bekannte Mensch, der sich freiwillig als Häftling in das Konzentrationslager Auschwitz begab. Pilecki war Angehöriger der Polnischen Geheimarmee (Tajna Armia Polska), die sich später „Heimatarmee“ (Armina Krajowa) nannte. Am 19. September 1940 ließ er sich absichtlich bei einer Straßenrazzia der SS in Warschau verhaften, um nach Auschwitz zu gelangen. Sein authentischer Bericht, den er nach seiner Flucht aus dem Lager 1943 zuerst in einer Kurzfassung niederschrieb, stellt eines der ersten und zugleich zentralen Dokumente über das Terror- und Todeslager dar. Pilecki erklärt in seinem Bericht als seine Hauptziele in Auschwitz: „Die Einrichtung einer militärischen Organisation, um die Moral der Kameraden zu stärken, indem ich Nachrichten aus der Außenwelt beschaffte und weitergab; wann immer möglich Nahrungsmittel und Kleidung zu organisieren und unter den Mitgliedern zu verteilen; Informationen aus dem Lager an die Außenwelt weiterzuleiten und, als krönenden Abschluss, unsere eigenen Kräfte aufzustellen, um das Lager zu übernehmen, wenn die Zeit reif war, uns durch Fallschirmtruppen oder abgeworfene Waffen zu unterstützen.“

Pilecki gelang es immer wieder, mit Hilfe von Mittelsmännern Informationen aus Auschwitz herauszuschmuggeln. Ebenso konnte er erfolgreich eine geheime Organisation von Häftlingen aufbauen, die sich gegenseitig wirksam halfen. Doch als er erkannte, dass es trotz seiner Appelle nach draußen und seiner präzisen Informationen über die Massenmorde zu keinem Angriff auf Auschwitz kam – auch nicht durch die Westalliierten – entschloss er sich nach zwei Jahren und sieben Monaten mit zwei Mithäftlingen zur Flucht. Pilecki: „Vor allem war ich ein gläubiger Mensch und überzeugt, dass ich es schaffen musste, wenn Gott auf meiner Seite war.“

Dass Pilecki aber überhaupt so lange in Auschwitz überlebte, war schon großes Glück – auch wenn er selbst von großer physischer und seelischer Widerstandskraft war, über hohes Raffinement und einen überaus wachen Überlebensinstinkt verfügte. Ebenso hätte seine Flucht, die er packend schildert, jeden Augenblick schiefgehen können. Noch weit außerhalb des Lagers feuerte ein deutscher Soldat auf die Flüchtenden, Pilecki erhielt einen Durchschuss der rechten Schulter.

In seinem Bericht über Auschwitz schildert er als Augenzeuge das willkürliche Morden durch die SS und Kapos, den Sadismus, die Foltermethoden, die Erschießungen, das Totschlagen, das Sterben bei endlosen Zählappellen oder Hunger und Krankheiten. „In der Strafkompanie“, berichtet Pilecki etwa, „vergnügten sich diese Monster damit, Männern, hauptsächlich Juden, mit einem Holzhammer auf einem Brett die Hoden zu zerquetschen.“ Über drei SS-Leute schreibt er: „Alle drei legten Geldscheine auf einen Ziegel. Dann begruben sie einen der Häftlinge kopfüber im Sand und schauten auf die Uhr, wie lange seine Beine noch strampelten (...) Offenbar kassierte derjenige SS-Mann den Einsatz, der am genauesten voraussagte, wie lange der Häftling seine Beine noch bewegen konnte, bis er starb.“

„Blutiger Alois“ wurde ein Kapo genannt. Pilecki: „Er war Deutscher, ein Kommunist mit rotem Winkel, ein degenerierter Mensch, der bereits seit sechs Jahren in Lagerhaft saß. Er schlug, quälte und folterte; täglich gingen mehrere Tote auf sein Konto.“ Pilecki schildert, wie SS-Hauptscharführer Gerhard Palitzsch Mädchen erschießt, die sich zuvor nackt ausziehen mussten. Ferner beschreibt er, wie bereits im Auschwitz-Stammlager rund 700 sowjetische Offiziere mit Gas getötet wurden.

Pilecki berichtet auch schon über Pater Maximilian Kolbe: „Einmal geschah es, als ein junger Häftling selektiert wurde, dass ein alter Mann, ein Pfarrer, vortrat und den Lagerkommandanten darum bat, ihn an seiner Stelle zu nehmen. Es war ein sehr wirkungsvoller Moment: der ganze Block stand starr vor Staunen. Der Kommandant stimmte zu. Der heldenhafte Pfarrer ging in den Tod: der andere Häftling trat ins Glied zurück.“

Um zu überleben, gibt sich Pilecki mal als Ofensetzer, mal als Schreiner aus, wenn solche Handwerker gesucht wurden. Da er weder das eine noch das andere war, gab es immer wieder gefährliche Situationen. Zweimal war er schwer erkrankt, immer wieder sprang er dem Tod von der Schippe. „Ich muss zugeben“, schreibt Pilecki, „dass ich damals zum ersten Mal an meiner Kraft zum Weiterkämpfen zweifelte – und sogar an meinem Willen zu kämpfen. Das war ein gefährlicher Geisteszustand. Zweifel am Kampfeswillen bedeutet, dass man am Zusammenbrechen ist. Als ich mir das klargemacht hatte, ging es mir sofort besser.“

„Überleben“, erklärt Pilecki, „konnte man hier nur durch Freundschaft und Zusammenarbeit – indem man einander half. Aber es gab so viele, die es nicht verstanden!“ Und: „Das Lager war ein Prüfstein des Charakters. Manche gerieten in einen moralischen Sumpf. Andere wurden zu einem Charakter aus feinstem Kristall gemeißelt.“

Witold Pilecki: Freiwillig nach Auschwitz. Die geheimen Aufzeichnungen des Häftlings Witold Pilecki. Aus dem Englischen von Dagmar Mallet. Orell Füssli Verlag in Zürich, 256 Seiten, gebunden, EUR 19,95

Themen & Autoren

Kirche