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Franz Werfel - Der Geheimnisvolle

Der jüdische Schriftsteller Franz Werfel (1890–1945) verstand die christliche Wahrheit. Von Ingo Langner
Franz Werfel, Schriftsteller
Foto: IN

„Zwischen Weltkrieg II und Weltkrieg III drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Und sie nahmen das, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Und Humanität schien ihnen jetzt der bessere Weg zu diesem Ziel. Sie fanden diesen Weg sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenwahn. (...) So wurden die Deutschen die Erfinder der Ethik der selbstlosen Zudringlichkeit.“

War der Dichter und Schriftsteller Franz Werfel ein Prophet? Wie konnte er bereits 1945 vorhersehen, was sich allerspätestens mit der „Willkommenskultur“ anno 2015 offenbaren würde? Oder hatte er nach zwei Weltkriegen genug erfahren, um wissen zu können, dass der „Deutsche an sich“ nur dann glücklich ist, wenn – unter welchen Vorzeichen auch immer – die Parole gilt: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!“?

Franz Werfel sah Menschen voraus, ohne Sinn für die Erlösung

Die luzide Sentenz von den Erfindern der Ethik der selbstlosen Zudringlichkeit stammt aus dem Reiseroman „Stern der Ungeborenen“, den Werfel, der am 26. August 1945 im kalifornischen Beverly Hills starb, während seiner letzten Lebensmonate vollendete. In dieser im Jahre 101 945 angesiedelten Dystopie lebt die Menschheit zwar schließlich doch noch in friedlicher Eintracht in einer erdumspannenden „Panopolis“, ist jedoch in geistiger Hinsicht keinen Schritt weitergekommen. Im Gegenteil: Sie ist „weiter von Gott entfernt“ als jene Menschheit, die zwar noch „dem Fluch des Erzengels Rechnung“ trug, doch der Erbsünde wegen noch in der Hoffnung lebte, von Gott erlöst werden zu können.

Mit dem „Großbischof“ und dem „Juden des Zeitalters“, die im Stern der Ungeborenen“ als letzte Vertreter der Menschheit figurieren, knüpft Werfel im Roman dort an, wo er bereits 1926 mit seinem gleich fünffach zeitgleich in Breslau, Bonn, Düsseldorf, Köln und München uraufgeführten Drama „Paulus unter den Juden“ begonnen hatte – was ihn prompt in die auch damals schon virulenten Mühlen der „politischen Korrektheit“ gerieten ließ. „Atheist, Materialist, Nihilist darf ein Jude heute ruhig sein, ohne gescholten zu werden, aber mit freier Seele die Tragödie der christlichen Loslösung (vom Judentum) schreiben, darf er nicht!!!“

Der Künstler und sein unvollendetes Werk "Paulus unter den Juden"

Die drei Ausrufezeichen hat Franz Werfel selbst gesetzt. Sie sind in summa ein Zeichen der Nachdrücklichkeit. Doch jedes für sich genommen können sie auch für einen Mann stehen, der qua Geburt dem deutsch-böhmischen Judentum angehörte, im vom römisch-katholischen Glauben geprägten Habsburgerreich aufwuchs und durch seine 1926 noch nicht legitimierte Beziehung zu Alma Margaretha Maria Schindler, (Witwe des Komponisten Gustav Mahler und bis zur Scheidung 1929 Ehefrau des Architekten Walter Gropius) von einer hochkultivierten Sphäre umwoben war, die seinem zur geistigen Unabhängigkeit drängenden Naturell den nötigen Halt verlieh.

„Paulus unter den Juden“ war ursprünglich als Teil 1 einer Trilogie geplant, die noch von den Dramen „Paulus unter den Heiden“ und „Paulus und Cäsar“ komplementiert werden sollte. Jedoch wohl auch deshalb unvollendet blieb, weil die Kritik ihm arg zusetzte, die Werfel schon für das erste Drama, das den „entscheidenden Augenblick (darstellt), in dem das Christentum sich loslöst von seiner Mutterwelt“ einstecken musste. Doch „wo, wenn nicht in dieser Welt, müsste Dichtung versuchen Wahrtraumdeuterei zu sein!?“, ruft Werfel seinen Zeitgenossen in einem Nachwort zu. So wie Franz Werfel seine Titelfigur anlegt, ist der vom Saulus zum Paulus konvertierte Hebräer mit römischer Staatsbürgerschaft insofern ein Spiegel seiner selbst, weil die Juden ihn für einen Verräter halten und ihm die junge Christengemeinde misstraut. „Um Israels Freiheit willen, sagt: (Jesus) war ein Mensch!“ So inständig lässt Werfel den Patriarchen Gamaliel seinen einstigen Schüler bitten, der Thora treu zu bleiben.

Ein Paradoxon zwischen Glauben und Kunst - Eine Betrachtung seines umfangreichen literarischen Werkes

Die Antwort des historischen Paulus kennen wir. Er wird zum Völkerapostel der Christenheit. Werfels Antwort kennen wir auch: „Das Wesen des Göttlichen ist es gerade, dass es sich mit dem Weltlauf nicht vereinigen kann, und in dem Moment, da es die Geschichte berührt, sie zugleich aufhebt.“ Franz Werfel hat das Kunststück fertiggebracht, bis an sein Lebensende ein ungetaufter christgläubiger Jude zu sein. Ein Paradoxon, zweifellos, und ein in mancherlei Hinsicht ungemütlicher Ort obendrein. Doch Werfel wurde auf diesem Posten die Gnade zuteil, ein außerordentlich umfangreiches, vielschichtiges, Metaphysik-gesättigtes poetisch-literarisches Werk zu schaffen, dessen Lektüre nicht nur für Christen und Juden reichen Gewinn verspricht.

Allein sein lyrisches Werk enthält nahezu 800 Gedichte. Schon sein Erstling „Der Weltfreund“ erregte Aufsehen. Max Brod hatte an dem Erfolg keinen geringen Anteil. Werfels Gedicht „An den Leser“ beginnt mit der Zeile „Mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein.“ Diese O-Mensch-Emphase setzt den Ton für zahlreiche nachfolgende Dichter, die wir dem Expressionismus zurechnen. Franz Kafka schrieb im Dezember 1912 an Felice Bauer: „Werfel ist tatsächlich ein Wunder; als ich sein Buch Der Weltfreund zum ersten Mal las, dachte ich, die Begeisterung für ihn werde mich bis zum Unsinn fortreißen. Der Mensch kann Ungeheures.“ Mit „Verdi. Roman der Oper“ verbeugte sich der nun schon als Meister des Worts geltende Werfel 1924 tief vor der Macht der Musik: „Oper ist Entfesselung, Rausch der Selbstflucht. Ihr gefährlicher Gott schlägt seine Priester oft mit dem göttlichen Thyrsosstab. Maestro Giuseppe Verdi war nach Venedig gekommen, um sich selbst ins Auge zu sehen.“ Mit diesem inzwischen leider selbst Opernkennern weitgehend unbekannten Roman geht es Werfel (im Rahmen eines fiktiven Abschnitts aus Verdis späten Lebensjahren) um die Ausgestaltung der Rivalität zwischen Giuseppe Verdi und Richard Wagner. Naturgemäß spielt dabei das von Werfel hinreißend durchbuchstabierte Thema „deutsche versus italienische Musik“ keine geringe Rolle. Doch was ihn darüber hinaus bewegte, war die Frage, was der musikgeschichtliche Schritt von der romanischen Oper zur nordischen Symphonie geistesgeschichtlich bedeutet: „Die menschliche Stimme wird zurückgedrängt, der gespannte Gesang und seine süßen Melodien, die so mühelos entzücken. (...) Nun reden die Instrumente. Sie können ihre Bekenntnisse nicht so strahlend hervorbringen wie die menschliche Stimme. Sie sind nicht so aristokratisch wie sie. Sie sind zu einer Art demokratisch kollektivistischem Austausch ihrer Meinungen verpflichtet wie die Parlamente, die das politische Wunschbild jener Zeit bedeuten.“

Werfel war von Anbeginn offen für das Heilige

Der Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“, in dem Werfel 1933 den Völkermord an den Armeniern im Weltkriegsjahr 1915 anklagt, wurde, so Franz Werfel selbst, „im März 1929 bei einem Aufenthalt in Damaskus entworfen. Das Jammerbild verstümmelter und verhungernder Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehens zu entreißen.“ „Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer Magd“ erschien 1939 und entstand bereits im französischen Exil. Teta Linek, noch im ersten Teil des Romans eine skurril-verschrobene Randfigur, weil sie wie närrisch hofft, sich die ewige Seligkeit erkaufen zu können, gewinnt im zweiten menschliche Größe gerade im Scheitern, weil Gott selbst sich ihrer erbarmt. Als Motto stellte Werfel seinem Roman einen Satz von Jean Paul voran: „Es ist, als hätten die Menschen gar nicht den Mut, sich recht lebhaft als unsterblich zu denken.“ Dieses existenzielle Unvermögen, dessen Kern der nihilistisch grundierte Glaubens- und Gottesverlust der europäischen Menschheit ist, führt aus Sicht Werfels in den Abgrund: Denn der „Aufstand gegen die Metaphysik“ ist „die Ursache unseres ganzen Elends“. „Prag gebar mich, Wien zog mich an sich. Wo immer ich liege/ Wird ich es wissen? Ich sang Menschengeschicke und Gott“ In diesem Grabepigramm verwies der am 10. September 1890 in Prag geborene Werfel auf jenes berühmt gewordene aus der Feder Vergils: „Mantua hat mich gezeugt, Kalabrien raffte mich dahin, nun birgt mich Parthenope; ich besang Hirten, Landbau und Helden“.

Doch während der antike römische Dichter und Epiker schon zu Lebzeiten den Ort seines Grabes festlegen konnte, denn Parthenope steht für Neapel, war der durch Hitlers Mordbande an Leib und Leben bedrohte Werfel von 1938 an ins Exil verbannt – mithin heimatlos und ein Fremder. Als die deutsche Wehrmacht nach Österreich auch halb Frankreich besetzte, floh Werfel zusammen mit seiner Frau Alma und Heinrich, Nelly und Golo Mann zu Fuß über die Pyrenäen via Spanien nach Portugal. Wo allerdings zunächst nur nervenaufreibende Visabemühungen auf sie warteten. Bis alle fünf im Oktober 1940 endlich auf dem griechischen Dampfer „Nea Hellas“ in die USA emigrieren können, wo Werfel bereits im Jahr darauf die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt.

Franz Werfel - ein Schriftsteller der Stunde

1943 wurde sein Roman „Das Lied von Bernadette“ höchst erfolgreich verfilmt. Dieser Roman war in Werfels eigenen Worten „ein jubelnder Hymnus auf den geistigen Sinn der Welt. An einem holden Beispiel wird gezeigt, wie selbst mitten in unserem skeptischen Zeitalter die göttlichen Kräfte wirken und ein unwissendes, aber geniales Geschöpf hoch über das gewöhnliche Maß hinausheben.“ Der Roman erzählt die Lebensgeschichte der heiligen Bernadette Soubirous, der vom 11. Februar bis zum 16. Juli 1858 insgesamt 18 Mal die Gottesmutter erschien und sich ihr als unbefleckte Empfängnis offenbarte („Que soy era Immaculada Councepciou“). Auf der Flucht erfuhr Werfel im südfranzösischen Pau, das von Flüchtlingen überfüllt war, „Lourdes sei der einzige Ort, wo ein von Glück Begünstigter vielleicht Unterkunft finden könne. (...) Auf diese Weise führte mich die Vorsehung nach Lourdes, von dessen Wundergeschichte ich bis dahin nur die oberflächlichste Kenntnis besaß.“

Franz Werfels Roman ist nach seinen eigenen Worten weit mehr als einer von vielen: „Dieses Buch ist ein Gelübde“ heißt es in einem „persönlichen Vorwort“ über die Umstände, die zur Niederschrift führten: „Werde ich hinausgeführt aus dieser verzweifelten Lage und darf die rettende Küste Amerikas erreichen – so gelobe ich –, dann werde ich als erstes vor jeder anderen Arbeit das Lied der Bernadette singen, so gut ich es kann.“ Werfel betonte im Mai 1941 erneut, ein Jude und kein Katholik zu sein. Er war sich im sicheren Los Angeles bewusst, aus höchster Gefahr von der „Immaculata“ gerettet worden zu sein und blickte erfüllt davon auf seine Anfänge als Dichter zurück: „Schon in den Tagen, da ich meine ersten Verse schrieb, hatte ich mir zugeschworen, immer und überall durch meine Schriften zu verherrlichen das göttliche Geheimnis und die menschliche Heiligkeit – des Zeitalters ungeachtet, das sich mit Spott, Ingrimm und Gleichgültigkeit abkehrt von diesen letzten Werten des Lebens.“ Dem ist, bezogen auf unsere Gegenwart, nur dies hinzufügen: Franz Werfel ist der Schriftsteller der Stunde.

 

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