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„Die Ukraine stirbt für die Werte Europas“

Ziel der Ökumene sei die vollkommene und sichtbare Einheit, sagt der ukrainische Großerzbischof Swjatoslaw Schewtschuk im „Tagespost“-Gespräch. Von Stephan Baier
Pope, Russian Orthodox patriarch hold historic meeting in Havana
Foto: dpa | Papst Franziskus und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill thematisierten in Havanna auch die mit Rom unierten Ostkirchen.
Eure Seligkeit, nach Jahrzehnten der sowjetkommunistischen Verfolgung, welche die mit Rom unierte griechisch-katholische Kirche im Untergrund und in der Emigration überlebte, kam Ihre Kirche 1991 wieder aus dem Katakomben. Was sind heute für Sie die wesentlichen Herausforderungen?

Die erste Herausforderung ist, authentisch Christen zu sein. Es ist wahr, dass wir eine glorreiche Vergangenheit haben. Wir haben hunderte Märtyrer. Durch die Gnade Gottes war unsere Kirche in der Tat die größte Opposition gegen das kommunistische Regime. Sogar Stalin mit seinen grauenvollen Attacken, die das Ziel hatten, unsere griechisch-katholische Kirche zu eliminieren, war nicht in der Lage, die Kirche zu zerstören. Denn es ist unmöglich, die Kirche Christi zu zerstören. Aber jetzt geht es nicht bloß darum, unsere glorreiche Vergangenheit im Gedächtnis zu behalten, sondern darum, unseren spirituellen Schatz zu erhalten und zu entwickeln. Die Herausforderungen des Säkularismus sind in der Ukraine heute sehr groß. Christ zu sein bedeutet, den eigenen Glauben jeden Tag in Taten und Entscheidungen zu bezeugen. Das ist die größte Herausforderung. Aber wir sollen unseren Glauben nicht nur bewahren, sondern weitergeben und teilen. Evangelisierung ist darum die große Herausforderung in der Ukraine: Den Glauben erhalten wir, indem wir ihn teilen.

Zugleich steht das Land inmitten von Krieg und Krise.

Der Krieg ist die zweite große Herausforderung: Wir hielten es für unvorstellbar, dass 25 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion unsere Söhne und Töchter bei der Verteidigung der Freiheit und der Unabhängigkeit der Ukraine sterben würden. Der ukrainische Staat war ein Traum von Generationen Ukrainern. Es ging darum, dass wir im eigenen Land, in unserer Heimat wir selbst sein können. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass wir am Beginn des dritten Jahrtausends herausgefordert sein würden, für die Freiheit der Ukraine zu sterben. Doch unsere Soldaten, die gerade jetzt an der Front sterben, während wir hier miteinander sprechen, sind überzeugt, dass sie nicht nur die Ukraine verteidigen, sondern Europa. Denn die Ukraine stirbt heute für die Werte Europas: für die Würde der menschlichen Person, für die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens, für die Möglichkeit, persönlich Zeugnis zu geben und seine Meinung wie seinen Glauben frei zu äußern – dafür, frei zu sein in einem freien Land. Die dritte Herausforderung lautet: Wie können wir dafür sorgen, dass das Fundament für die Reform und den Wiederaufbau der ukrainischen Gesellschaft gelegt wird. Die katholische Soziallehre ist heute das effizienteste Instrument für die Verbreitung des Evangeliums Jesu Christi: Ihre vier Prinzipien – die Würde der menschlichen Person, Gemeinwohl, Solidarität und Subsidiarität – sind heute Prinzipien und Ecksteine, die von allen Kirchen und Religionsgemeinschaften in unserem Land geteilt werden. Die Kirche ist jetzt die am meisten wirkmächtige Kraft gegen die Korruption in der Ukraine. Unsere Kirche entwickelte das beste Programm gegen Korruption, weil wir dieses Phänomen moralisch und spirituell bewerten – und nicht nur rechtlich.

Dieses Zeugnis wird aber geschwächt durch die Spaltung der Kirchen in der Ukraine.

Unsere Kirche predigt und handelt gegen Korruption. Wir lehren eine Null-Toleranz gegen dieses soziale Übel. Das ist heute, in dieser historischen Situation, eine der größten Herausforderungen.

Sie wollen die Neuevangelisierung Ihres durch Jahrzehnte des Kommunismus verwüsteten Landes. Bringt das nicht zusätzliche Spannungen mit der Orthodoxie, insbesondere in jenen Gegenden der Ost-Ukraine, wo die griechisch-katholische Kirche traditionellerweise schwach vertreten ist?

Mein Amtsvorgänger, Kardinal Husar, sagte oft, dass Stalin der größte Propagandist für die griechisch-katholische Kirche gewesen sei. Stalin verfolgte unsere Kirche nicht nur, sondern er zwang unsere Gläubigen auch, ihre Heimat in der westlichen Ukraine zu verlassen, und verteilte sie in der gesamten Sowjetunion. Hunderttausende griechisch-katholische Gläubige waren später nicht mehr in der Lage, in ihre Heimat zurückzukehren. Darum gibt es Hunderttausende in Russland, vor allem in Sibirien, in Kasachstan und auch in allen Teilen der Ukraine.

Sind diese Menschen sich ihrer griechisch-katholischen Identität weiterhin bewusst?

Absolut! Sie erbitten und verlangen eine pastorale Betreuung. Darum ist die griechisch-katholische Kirche heute im gesamten Gebiet der Ukraine seelsorglich präsent – einschließlich der besetzten Gebiete und der Krim.

Dürfen Sie in den von Rebellentruppen kontrollierten Gebieten und auf der russisch besetzten Krim überhaupt tätig werden?

Wir müssen kämpfen um unser Überleben in diesen Gebieten. Auf der Krim unterstützt der Heilige Stuhl die Katholiken beider Riten, des lateinischen wie des byzantinischen Ritus. Der Vatikan hilft uns dabei, unsere Strukturen zu bewahren. Im besetzten Gebiet von Donbas haben wir elf Pfarreien. Wir verfügen über vier Priester, die in diesen Gebieten bleiben, sich um die griechisch-katholischen Gläubigen annehmen und oft die einzige Brücke für humanitäre Hilfen in diesen Territorien sind. Unser vorrangiges pastorales Ziel ist, bei unseren Gläubigen zu sein, damit sie nicht bloß in die griechisch-katholische Kirche hineingetauft sind, sondern bei ihrer Identität als Katholiken des byzantinischen Ritus bleiben. Darüber hinaus aber ist die griechisch-katholische Kirche – nicht nur in der Ukraine, sondern weltweit – eine missionarische Kirche. Gemäß den staatlichen Statistiken identifizierten sich in der Region Donbas vor Beginn des Krieges lediglich elf Prozent der Einwohner mit einer Kirche oder einer Religion. Das bedeutet, dass dieses Gebiet, das eine Industrie-Region der Sowjetunion war, überwiegend atheistisch ist. Unsere Präsenz dort bedeutet darum nicht Proselytismus gegenüber Gläubigen des Protestantismus oder der Orthodoxie. Wir sind eine Kirche Christi und offen für alle. Auch außerhalb der Ukraine: Bevor ich Großerzbischof wurde, war ich der verantwortliche Bischof für die griechisch-katholischen Gläubigen in Argentinien. Dort wurde ich oft gefragt: Ist die ukrainische griechisch-katholische Kirche ausschließlich eine Kirche für die Ukrainer? Meine Antwort lautete stets: Aber in keiner Weise! Ja, wir sind eine ukrainische Kirche, weil das Wort Gottes konkret inkarniert ist in bestimmten Nationen, Kulturen, Sprachen, in Geschichte. Aber wir sind eine Kirche Christi. Also zelebrierten wir in vielen unserer Kirchen in Argentinien die Heilige Messe auf Spanisch. In einer Region waren 80 Prozent unserer Gläubigen weder Ukrainer noch Nachfahren von Ukrainern. Wir sind eine ukrainische Kirche, aber offen für alle! In der Ost-Ukraine, wo in der Vergangenheit mehrheitlich die Orthodoxie zuhause war, wollen wir an erster Stelle unseren Pfarrangehörigen beistehen, aber wir sehen auch die Verpflichtung, das Evangelium Jesu Christi allen zu predigen.

Die Orthodoxie vertritt die Idee des „kanonischen Territoriums“ und betrachtet darum alle missionarischen Aktivitäten in traditionell orthodoxen Ländern als Proselytismus. Wie ist vor diesem Hintergrund heute das Verhältnis zwischen der griechisch-katholischen und den orthodoxen Kirchen?

Sogar in diesen Zeiten der Not und des Krieges waren und sind wir in der Ukraine in der Lage, den religiösen Frieden zu wahren. Das ist der größte Erfolg und Segen für uns. Es gab Attacken, die innerukrainische Spannungen provozieren wollten. Sie müssen sehen, dass der Krieg in der Ukraine kein Bürgerkrieg ist, sondern eine von außen kommende Aggression. Auch die religiöse Situation in der Ukraine ist ein Objekt der externen Aggression. Die religiösen Führer unseres Landes sind sich dieser Attacken bewusst, darum tun wir alles, um einander nicht zu beleidigen. Wir lehren unsere Gläubigen, respektvoll gegenüber Menschen anderer Nationalität und Religionszugehörigkeit zu sein, denn wir müssen den inneren Frieden in der Ukraine wahren. Das ist eine Frage des Überlebens!

Schließt das die russisch-orthodoxe Kirche ein, die 1946 mit Stalin kollaborierte, um die unierte Kirche zu eliminieren?

Ja. Es gibt Merkwürdiges, aber wir lehren unsere Gläubigen, auch ihren Feinden zu vergeben. Ich bin überzeugt, dass es meine Verpflichtung ist, ein Prediger der Versöhnung zu sein. Wir erinnern uns etwa an den Versöhnungsprozess zwischen den polnischen und den deutschen Bischöfen, an die berühmte Formulierung: „Wir vergeben und bitten um Vergebung“. Es ist meine Pflicht als Oberhaupt der griechisch-katholischen Kirche, ein Förderer und Prediger der Vergebung zu sein. Das ist keine einfache Aufgabe, denn wenn man Frieden und Vergebung predigt, während man zugleich angegriffen wird, dann droht diese Botschaft missverstanden zu werden. Als würde man predigen, keinen Widerstand zu leisten oder aufzugeben. Das aber ist bei uns nicht der Fall! Ohne Gerechtigkeit und Wahrheit ist es unmöglich, Frieden und Versöhnung zu erreichen. In Bezug auf die orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats werben wir für einen Dialog, der als ersten Schritt ein friedliches Nebeneinander und Zusammenarbeit anstrebt. Im Vorjahr verabschiedeten wir ökumenische Richtlinien für unsere Kirche, die von unserem Synod approbiert wurden. Darin schrieben wir auch über Dialog und Versöhnung mit der russischen Orthodoxie. Die vorrangigen ökumenischen Gesprächspartner sind für uns die orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats, die orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats und die autokephale-orthodoxe Kirche. Unsere Kirche ist dynamisch und wächst, so dass andere Kirchen den Eindruck gewinnen können, es gebe eine Art Wettbewerb zwischen den Kirchen. Das ist aber nicht der Fall, denn wir wollen niemanden herausfordern. Wir haben lediglich unsere eigene Pflicht zu erfüllen: eine soziale, humanitäre, zuvörderst aber christliche Pflicht.

In der Deklaration, die Papst Franziskus und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill in Havanna unterschrieben, heißt es, der Uniatismus sei kein Modell für die Zukunft. Wie sehen Sie als Oberhaupt einer unierten Kirche diese Formulierung?

Lassen Sie mich unterscheiden: Die Suche nach einem geeigneten Modell für die Einheit der Kirchen und die Existenz der griechisch-katholischen Kirchen sind zwei verschiedene Themen. Auch wir akzeptieren, dass der Uniatismus kein Modell ist, um die Einheit der Kirchen zu erreichen. 1946, als unsere Kirche liquidiert und zwangsweise „vereinigt“ wurde mit der russisch-orthodoxen Kirche – das war ein Beispiel für Uniatismus. Es ist kein Modell für die Einheit der Kirchen, aus einer anderen Kirche ein Stück herauszubeißen und zu schlucken, denn das schafft neue Probleme und Hindernisse für den Dialog mit der Orthodoxie als ganzer. Wenn wir also über Versöhnung und ökumenischen Dialog mit der Orthodoxie sprechen, so lehnen wir den Uniatismus als Modell der Einheit der Kirche Christi ab. Aber wir meinen, dass diese Einheit nicht bloß eine Koexistenz oder Kooperation sein kann, denn wir können auch mit Nichtchristen koexistieren und kooperieren. Unsere Vision ist, dass diese Einheit vollkommen und sichtbar sein muss. Und der beste Ausdruck dieser Einheit ist nicht strukturell oder jurisdiktionell, sondern mystisch – die Heilige Eucharistie. Wir müssen die Idee der Communio studieren, nicht die wechselseitigen Strukturen. Es war die Sehnsucht des heiligen Papstes Johannes Paul, die Communio mit den orthodoxen Kirchen wiederherzustellen, um gemeinsam die heilige Liturgie feiern zu können. Das zweite Thema ist die Existenz der östlichen griechisch-katholischen Kirchen. Wir sind ein Teil der katholischen Kirche. Wir haben nicht bloß ein Recht, zu existieren, sondern wir haben unsere Mission und unsere Pflicht in der heutigen Welt zu erfüllen. Es gibt 21 östliche katholische Kirchen unterschiedlicher Tradition.

Mit der Deklaration von Havanna hat die russisch-orthodoxe Kirche den sogenannten „Unierten“ aber auch erstmals offiziell ein Existenzrecht eingeräumt.

Ja, als eine schlichte Tatsache. Das ist positiv. Es gibt aber ein Missverständnis in der Interpretation: Sie wollen den Uniatismus als Modell ablehnen, attackieren aber uns. Sie wollen uns existieren lassen, aber wie einen Gefangenen im Gefängnis – toleriert bis zum natürlichen Tod. Wir aber haben zu handeln und zu evangelisieren! Wenn wir einander respektieren, dann müssen wir uns in unserer gesamten Identität respektieren. Das ist der erste und wichtigste Schritt zu Frieden, Versöhnung und zur Einheit der Kirche Christi.

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28.03.2024, 21 Uhr
Regina Einig