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„Der Himmel auf Erden ist, wo man den Blick nach oben richtet“

Im Zisterzienserstift Heiligenkreuz nahm das Institut für „Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie“ (RPP) Himmel und Hölle in den Blick. Von Stephan Baier
Foto: dpa | Der Himmel sei pulsierendes Leben, Heimischwerden im Geheimnis, sagt Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz.

Die Hölle, aber auch Himmel und Glückseligkeit – all das kommt im alltäglichen Sprachgebrauch noch profaniert, verharmlosend vor. Da bekennt, „gesündigt“ zu haben, wer sich ein zweites Kuchenstück gönnte, und hat „höllische“ Magenschmerzen, obgleich der Kuchen ja „himmlisch“ schmeckte. Weniger oberflächlich setzte, seiner Tradition und seinem Anspruch entsprechend, das Institut für „Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie“ (RPP) des Wiener Psychiaters Raphael Bonelli an. Das RPP brilliert seit zehn Jahren mit hochkarätigen interdisziplinären Fachtagungen, bei denen die Welt von Psychiatrie und Psychotherapie mit Theologen, Seelsorgern und Philosophen ins Gespräch tritt: ein seit Sigmund Freud gewagtes und überraschendes, jedoch lohnendes und inspirierendes Unterfangen. So auch vergangenen Samstag im niederösterreichischen Zisterzienserstift Heiligenkreuz, wo „Himmel und Hölle“ interdisziplinär unter die Lupe genommen wurden.

Naturgemäß nahmen sich die Psychiater unter den Referenten, der Grazer Peter Hofmann und der Wiener Raphael Bonelli, bei der Tagung Hölle und Himmel „auf Erden“ vor, also die „Psychologie des Bösen“ und die „Psychologie des Glücks“, während die Philosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz Himmel und Hölle spannungsreich in „die Polarität des Seins“ einordnete. Erstmals traten bei RPP der Wallfahrtsdirektor von Maria Vesperbild, Prälat Wilhelm Imkamp, und die in München lehrende Philologin Barbara Vinken auf: Beide holten die Hölle aus der allegorischen Redeweise heraus – und wurden erschreckend konkret.

Peter Hofmann war als Vizevorstand der Grazer Universitätsklinik für Psychiatrie vor zehn Jahren gemeinsam mit Bonelli einer der Gründerväter des RPP. Heute ist der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, der sich auch als Gerichtsgutachter einen Namen gemacht hat, „einfacher Nervenarzt in Graz“. Seine psychiatrischen Erfahrungen klangen recht theologisch: „Die Hölle ist ewig, körperlich und psychisch – ohne Aussicht auf ein Ende.“ So könnten Schmerzen eine Dimension erreichen, dass sie uns völlig einnehmen. Wenngleich der Schmerz als Warnsignal eine Funktion habe, ergäben dauerhafte Schmerzen keinen Sinn. Da könnte die Aufgabe nur darin bestehen, das Leben trotzdem anzunehmen. Hofmann berichtete von Patienten mit Panikstörungen, also plötzlichen und dramatischen Angstzuständen, bei denen der Körper verrückt spielt und den drohenden Tod signalisiert. „Das ist für jeden, der es nicht hat, nicht nachvollziehbar.“ Diese Patienten würden sich fragen, was bei ihnen schiefgelaufen sei, was sie falsch gemacht hätten. Das sei – neben der Panikstörung – eine zusätzliche Belastung. Existenzielle Ängste würden ebenso als „Hölle auf Erden“ empfunden, wie Zwangsstörungen und schwere Psychosen „Höllenqualen“ verursachen könnten. Als Beispiel für quälende Zwangsgedanken nannte Hofmann eine Patientin, die ständig von der Vorstellung bedrängt wurde, sie könnte ihre Kinder mit Messern oder Scheren verletzen. Solche Patienten würden bei ihrer Umgebung auf völliges Unverständnis stoßen, hätten zudem die Angst, ihre Kinder und ihren Partner zu verlieren und würden deshalb – meist wahrheitswidrig – behaupten, dass ihnen die Antidepressiva und eine begonnene Therapie gut helfen würden. So komme zur Grunderkrankung die Vereinsamung. Und der Patient frage sich: Was kommt als Nächstes?

Auch Depressionen, laut Hofmann eine „Volkskrankheit“, könnten „die Hölle auf Erden“ sein. Er warnte mit Verweis darauf, dass die Psychiatrie mehr als 500 Diagnosen kenne, vor allzu schnellen Urteilen, und davor, jedes Böse zu pathologisieren. Die emotionale Reaktion auf schwere Verbrechen sei oft: Der muss ja krank sein! Tatsächlich sei aber nicht alles Böse zugleich krankhaft. „Viele schwere Verbrechen werden von Menschen ausgeführt, die psychisch nicht auffällig sind.“ Oft seien niedere Motive wie Rache oder das Erleben schweren Unrechts die Triebfeder für böses Handeln. Es gebe Menschen mit dissozialer Persönlichkeitsstörung, deren Lebensbiografie sich mehrheitlich in Gefängnissen zuträgt. Davon abzugrenzen sei der notorische Kriminelle, der als pathologischer Lügner ohne Gewissensbisse, oft sprachgewandt und charmant, im Alltag gar nicht weiter auffalle. „Das personifizierte Böse können wir nicht erklären“, so Hofmann, der meinte, manche Fälle könne man nicht therapieren – „das gehört einfach weggesperrt“.

Glück könne kein Auftrag des Patienten an den Therapeuten sein, meinte RPP-Gründer Raphael Bonelli, der als Psychotherapeut, Psychiater und Bestsellerautor in Wien tätig ist. Vielleicht liegt das ja daran, dass Glück mehr ist als Reparatur oder Vermeidung von Unglück. „Man kann Glück nicht direkt intendieren.“ Die „größte Gier nach Glück“ sei bei Sucht-Patienten festzustellen. Aristoteles, laut Bonelli „der erste Glückspsychologe“, habe gemeint, dass äußere und körperliche Güter zum Glück beitragen könnten, dass es aber die seelischen Güter seien, in denen das Glück verborgen sei. Als Glücksfaktoren nannte Bonelli eine stabile Partnerschaft (je verbindlicher desto glücklicher), Lebensziele familiärer und altruistischer Art, den Stellenwert der Arbeit, religiöses und soziales Engagement, Sport und Gewicht. In Anlehnung an den US-Psychiater und Genetiker Robert Cloninger nannte Bonelli drei „Wege zum Glück“: innere Ordnung, Beziehungsfähigkeit und Selbsttranszendenz. Für die Ordnung in der eigenen Motivation sei Sachlichkeit anstelle von Egozentrik entscheidend. Glücklich machten die Tugenden, die eingeübt zum Habitus würden: die Klugheit als Weg der Selbsterkenntnis, Gerechtigkeit als Fähigkeit, jedem das Seine zuzugestehen, Tapferkeit zur Überwindung von Angst und das Maßhalten. Alle empirische Forschung zeige die Sehnsucht junger Menschen nach Liebe, stabiler Beziehung und Familie.

Bonelli ging auch auf die „Attraktivitätsforschung“ ein, die zeige, „dass Männer sich nach echten Frauen sehnen, und umgekehrt – weil sie verschieden sind“. Durch ihr Anderssein könnten sich Mann und Frau gegenseitig glücklich machen. Dazu komme als dritter Weg zum Glück die Selbsttranszendenz: „Der Himmel auf Erden ist, wo man den Blick nach oben richtet“, auf das Wahre, Gute und Schöne. Mit Viktor Frankl meinte Bonelli, der Mensch verwirkliche sich im Dienst an einer Sache, bis hin zur Selbstvergessenheit. Die Fähigkeit zur Selbst-Distanzierung sei das Gegenteil von Egozentrik: „Wir brauchen ein Wertesystem, nach dem es sich zu leben lohnt.“ Selbsttranszendenz unterscheide den freien vom unfreien Menschen und sei „der Königsweg zum Glück“.

Bonelli präsentierte eine Hierarchie der Werte: Auf dem ersten Platz stehe das Schöne, Wahre und Gute, auf dem zweiten der Ehepartner, gefolgt von den Kindern, dem beruflichen Dienst, den Eltern und Schwiegereltern. „Wenn Karriere jedoch ganz oben steht, ist das kein Dienst mehr, sondern ein Götze.“ Seit 20 Jahren gebe es Studien von höchster Qualität, die laut Bonelli zeigen, dass Religion als Form von Selbsttranszendenz ein Resilienzfaktor ist: Mehr Religiosität heiße in der Regel weniger Süchte, Ängste und Neurosen. Bonellis Fazit lautete: „Es gibt keinen Himmel auf Erden, aber Wege des Glücks!“

Mit Dantes Göttlicher Komödie führte die in München lehrende Literaturwissenschaftlerin Barbara Vinken die Zuhörer im Kaisersaal des Stiftes Heiligenkreuz in die Hölle. Dass wir alle erlöst werden und ins Paradies kommen, dass keiner in der Hölle schmachten müsse und selbst der Teufel noch erlöst würde, sei heute eine beliebte Vorstellung. Dante sei kein Anhänger dieser Idee gewesen. In seiner Hölle gebe es weder Fortschritt noch Hoffnung. Hier seien die, „die falsch lagen“ im Leben, die herumgewirbelt wurden von ihren Leidenschaften. In der Hölle seien tote Seelen, die die wahre Liebe nicht mehr erkennen können. „Literatur unterläuft Dogmatik, lässt uns Anteil nehmen und erweckt Mitleid“, so Vinken, die als Beispiel die Francesca aus der Göttlichen Komödie nannte. Sie sei aber nicht die Verführte, wie sie behauptet, sondern die Verführerin – sie lügt, „also fügt sie sich in den Stammbaum Evas ein“, die auch Schuld auf andere abgeschoben habe. „In der Rolle der Verführten verführt Francesca uns noch zum Mitleid.“ Vinken nannte das „falsches Mitleid“, das an die Stelle des „Leidens am eigenen Seelentod“ trete.

Prälat Wilhelm Imkamp, seit 1988 Wallfahrtsdirektor in Maria Vesperbild, zeigte die inkarnatorische Dimension des Glaubens: Der Katholizismus sei die „Religion der materiellen Konkretisierung“. Die Sakramente zeigten die Gegenständlichkeit des Glaubens. Entsprechend konkret schilderte der Theologe die Hölle und ihr Höllenfeuer: Dieses Feuer sei von unserem Feuer unterschieden, gehe auf Gott selbst zurück, brenne ohne zu verbrennen und ohne genährt zu werden, es brenne ewig ohne eine zeitliche Abfolge, es leuchte nicht, sondern sei dunkel, brenne nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. „Die Lehre von der Realität des Höllenfeuers ist ein Traktat über die Leib-Seele-Beziehung“, so Imkamp: „Als man das Höllenfeuer gelöscht hat, hat man auch die Seele abgeschafft.“ Mit der modernen Relativierung der Hölle ging er hart ins Gericht: „Die, die überhaupt noch von der Hölle reden, machen ums Feuer einen großen Bogen.“ Der Traktat über die Letzten Dinge sei zur Unverbindlichkeit verkommen. Dabei sei Feuer eine Ursymbolik im anthropologischen Gedächtnis der Menschheit. Und allgemeine Erfahrung: „Wer seinen Finger in ein Feuer hält, bekommt schon einen winzigen Aperitif auf die Hölle.“ Seit 1955 sei das Höllenfeuer aus Theologie und Verkündigung verschwunden, doch wisse die gesamte Tradition, dass dieses Feuer real sei, nicht bloß metaphorisch. Laut Prälat Imkamp kommt es auf den „Mut zum Konkreten“ an: „Niemand trinkt das Wesen des Kaffees“, so der Theologe, dessen Eltern eine Kaffeerösterei besaßen. Feuer sei das Höllensymbol schlechthin. Das Fegfeuer sei eine „Vision von der Barmherzigkeit Gottes“, sagte Imkamp, der anfügte: „Wenn es das Fegfeuer nicht gäbe, käme ich nicht in den Himmel.“ Wer die Hölle leugne, könne auch nicht den Himmel versprechen.

Theologen, die die Ewigkeit leugneten, würden damit die Freiheit des Menschen leugnen, denn „was wir tun, hat Ewigkeitscharakter“. Die Hölle sei nichts Abstraktes: „Wir wissen, dass Menschen im Himmel sind; von der Hölle wissen wir, dass sie keine Abstraktion ist.“ Höllenqualen seien dem Menschen leichter vorstellbar als die ewige Glückseligkeit. Mission bestehe darin, Menschen vor der Hölle zu warnen und sie in den Himmel zu führen. „Für die Menschenrechte haben wir die UNO, für die Himmelssuche die Kirche.“ Imkamp betonte zugleich, dass jeder Mensch „durch die Beichte den höllischen Temperaturregler runterdrehen“ könne. Darum habe „auch noch der boshafteste Sünder ein Grundrecht darauf, die Wahrheit zu erfahren“.

Philosophisch näherte sich Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz, seit ihrer Emeritierung in Dresden Leiterin des „Europäischen Instituts für Philosophie und Religion“ an der Hochschule Heiligenkreuz, dem Thema. Zunächst nehme der Mensch Wirklichkeit als Gegenstrebendes wahr: Nacht und Tag, Heiliges und Unheiliges, Yin und Yang, Nord und Süd, Oben und Unten, Mann und Frau – alles Pole, die nicht zusammenwachsen, aber nur aneinander möglich sind. Das Leben sei Spannungsfeld. Davon ausgehend stellte die Philosophin die Frage, ob ähnlich auch die Hölle als polarer Gegensatz zum Himmel verstanden werden müsse: „Braucht das Gute wirklich das Böse, braucht die Wahrheit die Lüge, braucht die Liebe den Hass?“ Die Lüge jedoch ergänze die Wahrheit nicht, so wie der Teufel Gott nicht ergänzen könne. „Die Wahrheit erklärt sich und das Falsche.“

Gerl-Falkovitz widersprach einer „gnostischen Psychologie“, die Gut und Böse verschleife und Luzifer zum Gegengewicht Gottes erkläre. Die vorchristlichen Götter hätten auch eine dämonische Nachtseite besessen, der Christ jedoch wisse, dass Gott reines Licht ist, und keine Finsternis ist in ihm (1 Joh 1,5). Gott brauche den Teufel nicht, um Gott zu sein. Von der Genesis an widerspreche die Heilige Schrift der Doppeldeutigkeit: Die Schöpfung Gottes ist gut. Das werfe die Frage nach dem Ursprung des Dunklen auf. Anders als die Religionen erkläre die Offenbarung die Finsternis nicht aus Gott. Die Religionen projizierten das Hell-Dunkel unserer Erfahrung in die Gottheit selbst, welche deshalb auch angstbesetzt sei. Die Offenbarung aber lehre, dass das Dunkle nicht aus Gott ist. Gerl-Falkovitz nannte dies einen „Quantensprung in der Entwicklung der Religionen“.

So werde der Himmel „flutendes Leben und Fülle“, die Hölle dagegen „toter Ort der Scheintoten“, lähmend und eintönig. „Die Hölle hat kein Leben“, meinte die Philosophin, und ergänzte, „dass es sie als Möglichkeit gibt, aber auf keinen Fall als Ergänzung“. Die Hölle sei unlebendig und Leben tötend: „Böse ist das Erstarren, das niemand braucht.“ Himmel dagegen sei „pulsierendes Leben“, gegen das unser irdisches Leben „immer nur halb“ scheine. „Himmel ist Bewegung dem eigenen Ursprung zu. Wir haben heimisch zu werden im Geheimnis.“ Die Hölle aber ziehe ins Nichts.

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