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„Die Wahrheit braucht Menschen“

Wider die Sowjet-Propaganda und die Feigheit der Welt setzte sich Innitzer für die Ukrainer ein.
Theodor Innitzer
Foto: KNA-Bild (KNA) | Kardinal Theodor Innitzer, Erzbischof von Wien, in Wien.

Die historischen Großtaten des Wiener Kardinals Theodor Innitzer (1875 bis 1955) sind heute weithin vergessen. Seit Dienstag erinnert nun eine zweite Gedenktafel im Wiener Erzbischöflichen Palais daran: Hatte der heutige Erzbischof, Kardinal Christoph Schönborn, vor Jahren eine Gedenktafel enthüllt, die an die von Innnitzer 1940 gegründete „Hilfsstelle für nichtarische Katholiken“ – faktisch aber für alle hilfesuchenden Juden – erinnert, so wird nun im Treppenaufgang des Palais der Hilfe Innitzers für die verhungernde Ukraine gedacht.

Innitzer appelierte an die Welt, der hungernden Ukraine zu helfen

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Als „eine der schrecklichsten Seiten in den vielen Schrecken des 20. Jahrhunderts“ und als „gezielten Mord“, bezeichnete Kardinal Schönborn den von Sowjet-Diktator Josef Stalin 1932 initiierten Genozid am ukrainischen Volk. Von einer „offenen Wunde der Ukrainer“ sprach der Großerzbischof der mit Rom unierten ukrainischen Katholiken des byzantinischen Ritus, Swjatoslaw Schewtschuk. Kardinal Innitzer habe sich zur Stimme derer ohne eigene Stimme gemacht. Das Gedenken habe eine therapeutische, heilende Wirkung. Man dürfe über die Verbrechen nicht schweigen, damit sie sich nicht wiederholen.

Was war geschehen? Stalin hatte eine radikale Kollektivierung der Landwirtschaft beschlossen, um den ihm verhassten Bauernstand zu zerschlagen und die Widerstandskraft der Ukrainer und ihre nationale Identität zu brechen. Aufgrund von Augenzeugenberichten appellierte Kardinal Innitzer 1933 an die Welt, der hungernden Ukraine zu helfen, startete selbst eine interreligiöse Hilfsaktion, an der auch die Israelitische Kultusgemeinde Wien beteiligt war, und lud zu einer internationalen Konferenz der Hilfsorganisationen ins Wiener Erzbischöfliche Palais.

Stalin habe den Hunger zu einem Teil seiner Politik gemacht

Und dies, obwohl die Sowjetführung alles tat, um die Hungertragödie in der Ukraine vor der Welt geheim zu halten. Der „Holodomor“ wurde nicht nur vollständig geleugnet, sondern sogar als gezielte politische Feindpropaganda und als Lüge bezeichnet, wie der renommierte amerikanische Historiker Timothy Snyder am Dienstag in Wien darlegte. So sei der einzige Journalist, der damals unter eigenem Namen über den Holodomor berichtete, 1935 ermordet worden.

Stalin habe den Hunger zu einem Teil seiner Politik gemacht, um eine bestimmte Lebensform zu zerstören. Snyder beschäftigte sich in seinem internationalen Bestseller „Bloodlands“ ausführlich mit der Hungerkatastrophe in der Ukraine, die bis zu acht Millionen Menschen das Leben kostete. In Wien bekräftigte der Historiker, die westliche Diplomatie habe darum gewusst, aber geschwiegen. „Es waren nur sehr wenige, die den Mut hatten, auszusprechen, was sie wussten.“ Snyders zeitloses Fazit: „Die Wahrheit überlebt nicht von alleine. Die Wahrheit braucht Menschen, die sie aussprechen.“

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Stephan Baier Erzbischöfe Hungersnöte Josef Stalin Kardinäle Katholikinnen und Katholiken Theodor Innitzer Timothy Snyder

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