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Reiner Kunze: Sprachbildner der leisen Töne

Der Dichter Reiner Kunze ist als kompromissloser Zeitzeuge par excellence ein Vorbild für Schüler heute. Jetzt hat er in Passau den Deutschen Schulbuchpreis erhalten.
Reiner Kunze, Schriftsteller
Foto: Juergen Bauer (Hanns-Seidel-Stiftung)

Reiner Kunze wurde am 16. August 88 Jahre alt. 1933 geboren, übersiedelte er 1977 des nackten Überlebens wegen von der DDR in die Bundesrepublik. 88? Das sind zweimal 44. Die ersten 44 Jahre, 1933 bis 1977, musste Reiner Kunze in einer der deutschen Diktaturen leben. Seit 44 Jahren nun lebt er in einer Demokratie.

Nun also ein Schulbuchpreis für den mit Ehrungen vielfach ausgezeichneten Reiner Kunze. Warum? Weil die Jugend über Reiner Kunze erfährt, woran man ein totalitäres System erkennt, wie man es überlebt, was man zu seinem Einsturz beitragen kann, wie man mit Sprache zur Welt und zu Wahrheiten findet, wie man mit Sprache zu sich selbst findet. Es ist dieser Preis auch die Anerkennung für ein Bekenntnis Reiner Kunzes: „Dürfte ich zwischen einem Literaturpreis und einem Platz im Schullesebuch wählen, würde ich mich für den Platz im Lesebuch entscheiden.“

Reiner Kunze hat kein ganz bestimmtes Schulbuch geschrieben. Das würde er sich nicht antun. Denn Schulbücher müssen sich an Vorgaben halten. Zum Beispiel Lehrpläne. Reiner Kunze würde ein solches Unterfangen sofort verwerfen – nämlich nach der Lektüre der Lehrpläne. „Lehrpläne?“ würde er ausrufen, nein „Leerpläne sind das!“

Vorbild und Wegweiser

Reiner Kunze ist Träger des Schulbuchpreises, weil seine ganze Vita Vorbild und Wegweiser ist. Er ist für junge Leute Zeitzeuge par excellence. Und: Reiner Kunze ist der Großanwalt der Kunst-, Meinungs- und Berufswahlfreiheit. Freiheiten sind das, die die Jugend heute wie selbstverständlich genießen kann, freilich ohne immer Antennen dafür zu haben, wenn diese Freiheiten peu a peu eingeschränkt werden. Warum wurde Reiner Kunze ein solcher „Anwalt“? Weil man ihm in der DDR diese Freiheiten nahm. Und er sich nie damit abfand. Er begehrte bereits 1968 heftig gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings auf. Die Folge war, dass eine Stasi-Akte über ihn angelegt und mit Tausenden von Spitzelberichten gefüllt wurde. Und dass man ihm einen Autounfall auf der Autobahn androhte. Reiner Kunze war für noch so viel Stasi-Silberlinge nicht zu korrumpieren. Für ihn gab es keine Kompromisse. Denn: „Das poetische Bild ist nicht kompromissfähig, weil es auf Wahrheit verweist.“

Vertrauen in die Sprache

Kunze vertraut der Sprache. In der Sprache ist nämlich generationsübergreifend – also in intergenerationeller Demokratie – Erfahrung, Gedächtnis, Weisheit, Wahrheit gespeichert. Das Schlimme ist: Wir merken es kaum noch, wenn all dies dahinschwindet. Es ist ein Verlust des Verlustes, wie es der verstorbene englische Philosoph Roger Scruton genannt hat: Wir merken den Verlust selbst von etwas Unwiederbringlichen oft nicht mehr.

Kunze hat ein Herz für Kinder und Jugendliche. Etwa 2011 mit der Sammlung „Was macht die Biene auf dem Meer? Gedichte für Kinder, Mütter, Väter, Großmütter und Großväter“. Und dann erst der eifrige Briefeschreiber Kunze: Für ihn ist das Briefeschreiben das „Tor zur Welt“, die „zweite Luftröhre“. Wie wohltuend und wegweisend in Zeiten, in denen Junge „digital natives“ werden sollen, aber doch „digitale Naivlinge bleiben“.

Wegbereiter der Einheit

Sodann: Reiner Kunze als Patriot. Er litt unter der deutschen Teilung. Er hat die Mauer mit leisen Tönen zum Einsturz gebracht. Er höhlte die hohle DDR aus und war damit poetischer Wegbereiter der wiedergewonnenen Einheit Deutschlands. Viele seiner Gedichte, zumal wenn er sie selbst vorträgt, mögen pianissimo sein. Aber ihre Aussage ist fortissimo.

Schließlich der Sprach- und Herzensbildner Kunze. Er ringt um jedes Wort. Das ist das wohltuende Gegenstück zur Schwatzhaftigkeit, der sich viele in den sogenannten „sozialen Netzwerken“ bedienen. Kunze lädt mittels Sprache ein zur Meditation. Und er lädt ein, jedes Wort zu wägen. Er sagt: „Wort ist währung / Je wahrer, / desto härter.“ Und auch da ist Kunze kompromisslos. Da wird er zum Großanwalt unserer Sprache, wenn es denn sein muss auch Generalankläger gegen deren Verhunzungen.

Skrupellose Rechtschreibreform

Zwei Fehlentwicklungen hat sich Kunze zur Brust genommen. Erstens: Für ihn war die Rechtschreibreform ein Beispiel von Machtarroganz und Skrupellosigkeit – ohne Rücksicht auf Sachargumente. Kunze weiter: „Wer das Niveau der geschriebenen Sprache senkt, senkt das Niveau der Schreibenden, Lesenden und Sprechenden“. Wobei Kunze sich in Gedichten durchaus die künstlerische Freiheit nimmt, eine gemäßigte Kleinschreibung anzuwenden. 2002 hat er eine wichtige Denkschrift zu Papier gebracht. Der Titel dieser Schrift ist allein schon Sprachphilosophie: „Die Aura der Wörter“. Ein Plädoyer für die Dignität und Wahrheit der Sprache!

Einmal mehr freilich zeigte und zeigt sich, wie sehr so manche Politik sich von der Bevölkerung entfernt hat. Politik und ein Experten(un)wesen haben sich arrogant und ignorant durchgesetzt. Ein obrigkeitlicher Gewaltakt ist daraus geworden – vergessend, dass die Sprache dem Volk und nicht irgendwelchen Bürokraten oder modernistischen Linguisten gehört. Dabei hat die „Reform“ nullkommanix gebracht. Die Schüler machen mitnichten weniger Fehler. Gelitten hat auch die Ernsthaftigkeit, mit der Schüler an die Rechtschreibung herangehen sollen. Schuld daran ist die Beliebigkeit von Schreibungen (Variantenschreibungen). Schüler entwickelten nämlich bald das Gefühl, dass man etwas „so oder so oder auch anders“ schreiben kann.

Gelitten haben die Möglichkeiten der semantischen Differenzierung. So soll es viele Unterscheidungsmöglichkeiten nicht mehr geben, weil dann etwa folgende Schreibungen bevorzugt werden sollen: „wohl bekannt“ statt bisher „wohlbekannt“, „viel versprechend“statt „vielversprechend“. Man stelle sich einmal vor: Da will einer sagen oder schreiben, man müsse die Diskriminierung von Fremden „bewusst machen“ (getrennt geschrieben, also willentlich machen), wo er doch (zusammengeschrieben) „bewusstmachen“ (darüber aufklären) meint.

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Angriff auf den Gender-Unfug

Und dann Kunzes Angriff auf den sprachlichen Gender-Unfug: Wer als Freidenker im totalitären Staat der DDR der Indoktrination ausgesetzt war, der hegt eine tiefe Skepsis gegen verordnete Gebote des Denkens, Redens und Schreibens. Auch im Jahr 2021, in dem die „gendergerechte“ Verhunzung unserer Sprache bis hinein in die „Öffentlich-Rechtlichen um sich greift und das sog. Gender-Sternchen über 300mal gewisse Wahlprogramme „ziert“. Mit einem „Sternchen“, das/den manche auch noch für aussprechbar halten – mit einem Glottisschlag, einem gesprochen Zungenschnalzer, der freilich eher Logopädie-Bedarf signalisiert. Und dann erst so abstruse Konstruktionen wie: „Backendenhandwerk“, Fußgehendenbrücke“, „Letztes Jahr gab es drei tote Radfahrende.“

„Der Sprachgenderismus ist eine aggressive Ideologie, die sich gegen die deutsche Sprachkultur und das weltliterarische Erbe richtet, das aus dieser Kultur hervorgegangen ist." Reiner Kunze

Reiner Kunze nennt die Genderisierung der Sprache eine eklatante Verarmung der Sprache, eine Denunzierung aller Sprechenden, die sich dagegen verwahren, und eine Einschränkung der Freiheit des Denkens. Wörtlich: „Der Sprachgenderismus ist eine aggressive Ideologie, die sich gegen die deutsche Sprachkultur und das weltliterarische Erbe richtet, das aus dieser Kultur hervorgegangen ist." Und da kann der sonst so leise Reiner Kunze zornig werden: „Das ist ein Verbrechen gegen unsere Sprache!“

Was können junge Leute von Reiner Kunze lernen? In einem Essay mit dem Titel „Wenn wieder eine Wende kommt“ schreibt Kunze: „Geschichte wiederholt sich nicht, heißt es, aber es gibt Ideologien, deren die Menschheit nie Herr werden wird, und der Weg von der Demokratie in die Diktatur kann demokratisch sein.“ „Lebt nicht mit der Lüge!“, sagen deshalb Alexander Solschenizyn und Reiner Kunze denn auch. Seid widerspenstig, gebt nicht den Untertan, wie ihn Reiner Kunze persifliert: „… Mein junge, ein guter Deutscher / Schläft auf kommando ein / Und wenn in Deutschland geschlafen wird, / darf keiner munter sein.“

Zum Ende schweift unser Blick von Kunzes eindrucksvollem Werk nach Stockholm. Ihr dort, möchte man ausrufen, Ihr in Eurem schlauen Komitee: Warum habt Ihr Reiner Kunze bislang verschlafen?“

Der Verfasser ist Vorsitzender des Kuratoriums Deutscher Schulbuchpreis.

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