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Radikale Antworten

In islamistischen Gruppen finden viele Jugendliche das, was ihnen eine materialistische Gesellschaft nicht geben kann. Über die Attraktivität einer politisch-religiösen Ideologie, die Hintergründe jugendlicher Radikalisierung und pädagogische Ansatzmöglichkeiten.
Salafistenprediger Pierre Vogel
Foto: dpa | Charismatisch und begeisternd: Deutschlands wohl bekanntester Salafistenprediger Pierre Vogel, hier bei einer Kundgebung in Hamburg.

Du stirbst nur einmal. Warum nicht als Märtyrer?“ Mit dem Slogan „YODO. You only die once – why not make it martyrdom“ hatte der IS in sozialen Netzwerken um jugendliche Aufmerksamkeit geworben. Erfolgreich. Eine Analyse des BKA aus dem Jahr 2016 hat ergeben, dass der Großteil der über 780 bekannten in Richtung Syrien oder Irak ausgereisten Personen zwischen 22 und 25 Jahren alt war, ein Alter, das aus pädagogischer Perspektive noch als jugendlich bezeichnet wird. Mit dem Schwächeln des „Islamischen Staates“ sind auch die Ausreisen weniger geworden, aber nach wie vor gilt: Islamismus ist hip und „Salafisten sind die besseren Sozialarbeiter“, so der Islamismusexperte Ahmad Mansour.

„Es scheint, dass das materialistische Credo
einer konsumorientierten Gesellschaft keine befriedigenden
Antworten und Lösungen liefern kann auf die
existenziellen Fragen und Probleme vieler junger Menschen“

Als eine in den Nihilismus pervertierte Kopie des Jugendwortes YOLO („You only live once“) offenbart der YODO-Slogan dabei nicht nur etwas über die jugendnahe Pädagogik radikal-islamischer Gruppen, sondern auch über die innere Welt der Jugendlichen und die Gesellschaft als Ganze. Es scheint, dass das materialistische Credo einer konsumorientierten Gesellschaft keine befriedigenden Antworten und Lösungen liefern kann auf die existenziellen Fragen und Probleme vieler junger Menschen. Mit der freiheitsbeschwörenden Haltung „Du lebst nur einmal“ lässt sich so manches Verhalten vor dem jugendlichen Gewissen rechtfertigen. Den Sinn dieses einmaligen Lebens und das ungewisse Danach kann „YOLO“ jedoch nicht erklären. Dieses Sinndefizit ist nur einer der Faktoren, die Jugendliche in die Arme von Salafisten treiben, ein wesentlicher allerdings. Denn durch ihren religiösen Bezug hat die islamistische Ideologie anderen Formen des Extremismus etwas voraus: Sie bietet Transzendenz an, eine göttliche Mission, ein Leben nach dem Tod. YODO statt YOLO.

Dass die Thematik auch für Lehrkräfte und Pädagogen relevant ist, hat eine Fortbildung am Schulamt Fulda unter dem Titel „Salafismus im schulischen Kontext: Ideologie, Radikalisierung, Erkennbarkeit“ gezeigt. In der letzten Zeit seien, wohl bedingt durch den öffentlichen Diskurs, vor allem Anfragen im Bereich Rechtsextremismus bei ihnen eingegangen, erklärt Lara Meurer vom Hessischen Landesamt für Verfassungsschutz. An der Aktualität der Problematik islamistischer Radikalisierung unter Jugendlichen ändert das nichts. Mindestens sieben islamistisch motivierte Anschläge sind laut BKA seit Dezember 2016 vereitelt worden, im Internet und in einzelnen Moscheegemeinden kursieren extremistische Inhalte und auf die Welle der Ausreisen folgt nun die Frage, wie mit den „Rückkehrern“ umgegangen werden soll.

Islamismus ist kein einheitliches Phänomen

Islamismus ist dabei kein einheitliches Phänomen. Es gibt durchaus Formen eines radikalen Islam, die sich in das westlich-demokratische System integrieren und ihre Ideologie in den Grenzen der Legalität ausleben. Davon zu unterscheiden sind der Salafismus als eine politisch-systemfeindliche und der Dschihadismus als eine zusätzlich gewaltbereite Strömung des Islamismus. Die Übergänge zwischen den Spektren sind dabei fließend, dennoch verläuft eine Radikalisierung meist nicht als Entwicklung von „niedrigschwelligeren“ Formen des Islamismus hin zur Gewalttätigkeit. So gibt es Salafisten, die sich ihr Leben lang politisch und gesellschaftlich für einen Staat nach islamischen Grundsätzen engagieren, ohne dabei Gewalt zu predigen oder anzuwenden.

Wesentliches Kennzeichen aller Spielarten des Islamismus, auch der legalistischen, ist eine Verquickung von Politik und Religion, weshalb Islamismus oft auch als „Missbrauch der Religion Islam für politische Zwecke“ definiert wird. Staatliche Gesetze werden als menschengemacht und damit unvollkommen abgelehnt, allein die Gesetze Gottes, die aus Koran und Sunna hergeleitete Scharia, dürfen gelten. Als „Herrschaft von Menschen über Menschen“ ist damit auch die Demokratie ein System, das der Souveränität Gottes widerspricht. Staat und Religion werden als Einheit verstanden, der damit einhergehende Absolutheits- und Universalanspruch des islamischen Rechts führt schließlich zu unterschiedlich ausgeprägten Formen des Aktionismus. Da die Scharia jedoch kein festgeschriebenes Gesetz, sondern abhängig von der Auslegung ihrer Quellen ist, bestehen nicht nur in der Durchsetzung, sondern auch inhaltlich Differenzen: Weder im Islam noch im Islamismus gibt es ein einheitliches Religions- und Staatsverständnis.

„Eine Radikalisierung ergibt sich meist aus
einer Passung zwischen den Angeboten der Ideologie und
der individuellen Situation und Persönlichkeit des Betroffenen“

Ob ein Jugendlicher sich vom Islamismus angesprochen fühlt, hängt jedoch nur in Teilen mit der inhaltlichen Ausrichtung der Ideologie zusammen. In der Regel ist es ein „multikausale[s] Zusammenspiel einzelner Faktoren“ (Mansour), das zu einer Radikalisierung eines Menschen führt. Ein aufmerksames soziales Umfeld – hier sind in ihrer Professionalität vor allem auch Pädagogen und Lehrkräfte gefordert – kann die Anzeichen einer Radikalisierung oder auch die besondere Gefährdung und Affinität eines Jugendlichen gegenüber extremistischen Positionen schon früh erkennen. Im besten Fall können die Angehörigen, Freunde und Pädagogen dann reagieren, bevor es zu spät ist und der Jugendliche so gefangen im islamistischen Denken und der Gemeinschaft ist, dass er weder durch Argumente noch durch soziale Kontakte zugänglich ist.

Eine Radikalisierung ergibt sich meist aus einer Passung zwischen den Angeboten der Ideologie und der individuellen Situation und Persönlichkeit des Betroffenen. Persönlichen Krisen, eine verunsicherte Identität, Perspektiv- und Orientierungslosigkeit, ein gesteigertes Aggressionspotenzial, Diskriminierungserfahrungen und die Suche nach Sinn und spirituellen Erfahrungen treffen auf ein haltgebendes Gemeinschaftsangebot sowohl durch die Gruppen vor Ort als auch die weltweite „Umma“, klare Wertvorstellungen, detaillierte und damit in den persönlichen Entscheidungen entlastende Lebensvorschriften, auf eine göttliche Legitimierung von (Selbst-)Hass und Gewalt und schließlich auf die Verheißung des Paradieses.

„Vaterdefizit“ als ein Faktor im Radikalisierungsprozess

Auffällig ist dabei ein weiterer Faktor, der in seiner entwicklungspsychologischen Bedeutung die anderen Radikalisierungsaspekte in Teilen mitbedingt: Menschen, die sich islamistisch radikalisieren, haben in der Regel keine oder keine gute Vaterbeziehung. Das Fehlen einer positiven männlichen Bezugsperson hat für die Entwicklung eines Kindes erhebliche Folgen, etwa für das Selbstwertgefühl, die Emotions- und Aggressionsregulation, das Empathievermögen und die Entfaltung einer gesunden Geschlechtsidentität. Gerade bei Jugendlichen mit einer verunsicherten Männlichkeit – 79 Prozent der vom BKA untersuchten Personen war männlich – kann der islamistische Appell an Abenteuer- und Kampfgeist so besonders erfolgreich sein. Salafismus und Dschihad schaffen zum einen die Möglichkeit, das eigene Minderwertigkeitserleben in demonstrativer Männlichkeit zu kompensieren. Zum anderen kommt die Bindung an charismatische Führungsautoritäten dem „Vaterhunger“ zumindest vordergründig entgegen.

Die Analyse dieser Faktoren liefert nicht nur Erklärungen, sondern auch Ansatzpunkte, wie islamistischer Radikalisierung bei Jugendlichen präventiv und intervenierend begegnet werden kann. Neben beispielsweise „Hayat“ und „ufuq.de“ ist das „Violence Prevention Network“ (vpn) eine der auf religiösen Extremismus spezialisierten Beratungs- und Hilfestellen. Vpn arbeitet in Schulen, mit Einzelpersonen und in Gefängnissen. „Unser wichtigstes Tool ist die Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern“, erklärt eine Mitarbeiterin über ihre Arbeit mit Klassen. Offenes Fragen, Zuhören und Aussprechenlassen ohne vorwurfsvoll zu reagieren sind wesentliche Prinzipien, um wirklich Zugang zu den Jugendlichen zu bekommen und auf dieser Vertrauensbasis mit ihnen an den sehr sensiblen Themen arbeiten zu können.

Christliche Verantwortung gegenüber Jugendlichen

Beziehung vor Argumenten – ein Grundsatz, der vor dem Hintergrund, dass Menschen mit extremistischen Haltungen auf diskursiver Ebene kaum zugänglich sind, sehr sinnvoll erscheint. Im Blick auf die fast charakteristische Vaterproblematik islamistisch Radikalisierter könnte auch eine spezifisch „männliche“ Beziehungsarbeit – von Männern für männliche Jugendliche – einen wertvollen Beitrag zu Prävention und Deradikalisierung leisten. Nicht zuletzt gilt es aber auch auf Ebene der existenziellen Fragen nach Sinn und Religiosität Alternativen zur islamistischen Ideologie zu bieten. Das geht über die Zuständigkeit von Pädagogik und Psychologie hinaus. Es ist vielmehr eine Anfrage an die Kirche und jeden Christen, die Antworten, die ihr Glaube hat, nicht zu verschweigen.

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Annalia Machuy Islam Islamischer Staat Islamismus Islamistischer Fundamentalismus Salafismus

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