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Hilfsorganisation „Roter Keil“: Nicht wegschauen

Pfarrer Jochen Reidegeld kämpft mit der Hilfsorganisation „Roter Keil“ gegen Kinderprostitution.
Jochen Reidegeld
Foto: GF | Mehr als nur ein Gemeindepfarrer: Jochen Reidegeld.

Jochen Reidegeld ist weitaus mehr als ein „normaler“ Pfarrer. Der 51-jährige stammt aus einer politisch engagierten Familie, sein Vater war CDU-Fraktionsvorsitzender im Rat der Stadt Greven bei Münster. Er selbst, stark durch die Spiritualität der Salesianer Don Boscos geprägt, betrachtet es als besonderes Anliegen, sich gesellschaftlich zu engagieren und für Schwächere einzusetzen und so „nicht nur zu predigen, sondern das, was man vertritt, auch selbst vorzuleben“, wie er hinzufügt. Vor über 20 Jahren hat er die Hilfsorganisation „Roter Keil“ gegen Kinderprostitution und Kindesmissbrauch gegründet, und seit einigen Jahren setzt er sich für die verfolgte Minderheit der Jesiden im Nordirak ein.

Zurück ins Pfarrhaus

Geboren und aufgewachsen in Greven, studierte Reidegeld von 1988 bis 1993 in Münster, Tübingen und Salamanca Katholische Theologie und wurde 1996 zum Priester geweiht. Kaplansjahre in Olfen (1996 bis 2000) und Senden (2000 bis 2009) folgten, parallel war er von 2007 bis 2010 am Bischöflichen Offizialat in Münster tätig. 2008 promovierte er im Kirchenrecht mit einer Arbeit über die Möglichkeiten einer differenzierten Verantwortung und Leitung in den Pfarreien. Ab 2010 nahm er in der Verwaltung des Bistums Münster die Funktion des stellvertretenden Generalvikars wahr, zudem wirkte er von 2010 bis 2013 als Rundfunkbeauftragter des Bistums für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und Leiter der Fachstelle „Orden, Säkularinstitute und geistliche Gemeinschaften“. Im November 2016 übernahm er die Leitung der Hauptabteilung „Zentrale Aufgaben“ und baute diese völlig neu auf. Und dann folgte Ende 2019 die große Überraschung: Reidegeld nahm Abschied von seiner Leitungsfunktion im Bistum Münster und wurde Leitender Pfarrer der Pfarrei St. Nikomedes sowie Kreisdechant des Kreisdekanates Steinfurt.

Schlüsselerlebnis auf Sri Lanka

Das Schlüsselerlebnis des tatkräftigen Seelsorgers, welches zur Gründung der Organisation „Roter Keil“ führte, liegt schon eine ganze Weile zurück: Kurz vor seiner Priesterweihe erkrankte Reidegeld schwer und brach deswegen nach Sri Lanka auf, um dort eine Ayurverda-Kur zu machen, und erlebte zu seinem Entsetzen in Negombo nahe bei der Hauptstadt Colombo, dass sogenannte „Beachboys“ nicht nur Bootstouren und Souvenirs, sondern auch Kinder ab vier Jahren und Jugendliche zur Prostitution anboten. „Und obwohl ich es vor Ort gesehen und erlebt hatte, weigerte sich ein Teil von mir, das für wahr und möglich zu halten“, fügt Reidegeld hinzu. Erst als er in einem Rehabilitationszentrum der Salesianer Don Boscos einem der betroffenen Jungen direkt gegenübersaß und der von seinem Leidensweg erzählte, begriff er in seiner ganzen Tiefe, welch ein schreckliches Verbrechen Kindesmissbrauch darstellt.

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Roter Keil

Die Begegnung ließ ihn nicht mehr los, und er gründete mit einigen Mitstreitern die Initiative Bosco Sevana, aus der der „Rote Keil“ entstehen sollte. Der Name stammt vom Symbol des Vereins, welches einen roten Keil zeigt, der einen schwarzen Block des Wegschauens aufbricht. Das Engagement der Hilfsorganisation besteht in der Unterstützung von Präventions- und Therapiemaßnahmen sowie in politischer Lobbyarbeit. Neben dem deutschen e.V. gibt es inzwischen eine Stiftung, deren Vorsitz Reidegeld selbst innehat.

Die Hilfe selbst ist längst über Sri Lanka hinaus ausgeweitet worden und umfasst jetzt auch Partnerprojekte auf den Philippinen, an der deutsch-tschechischen Grenze, in Hamburg, Berlin und Dortmund. Ortsgruppen des Vereins sind heute in Münster, Senden, Olfen, Bottrop, Greven und Oldenburg ansässig, Prominente wie Helene Fischer, Atze Schröder, Sebastian Kehl und Rita Süssmuth werben als „Schutzengel“ für den „Roten Keil“. „Gegenüber der Gründungszeit des Vereins hat sich die Lage durch die Machenschaften, die über das Internet laufen, noch verschlimmert“, erklärt der Pfarrer sichtlich erschüttert. „Wo wirtschaftliche Not herrscht und der Unterschied zwischen Armut und Wohlstand extrem groß ist, da ist der Nährboden für mafiöse Strukturen gegeben. Das Furchtbarste ist: Mittlerweile werden zwei– und dreijährige Kinder angeboten, eine Grenze nach unten gibt es in der Kinderprostitution nicht mehr.“ Ein Hoffnungsschimmer besteht jedoch darin, dass es von Seiten der Politik Initiativen gibt, die Ermittlungsbehörden besser auszustatten und rechtliche Schieflagen zu beseitigen.

Umgang mit Missbrauch als Existenzfrage

Besonders betroffen macht den Pfarrer, dass es in seiner eigenen Kirche so viele Missbrauchsfälle gegeben hat und gibt. „Dieses Ausmaß der sexuellen Gewalt und der Vertuschung hätte ich nicht für möglich gehalten“, gibt es unverblümt zu. „Deshalb ist es mir auch ein besonderes Anliegen, dass die Kirche durch Experten-Gutachten aufzuklären versucht und Prävention betreibt.“ Darüber hinaus müssten aber auch strukturelle Konsequenzen gezogen werden, die Macht müsse kontrolliert, eine Verfassungsgerichtsbarkeit installiert werden, regt der Priester an. Zwar habe keine andere Institution in Deutschland bisher so viel für die Prävention bei sexualisierter Gewalt getan wie die katholische Kirche, aber diesen Bemühungen werde nach so vielen Verfehlungen nicht mehr geglaubt. „Der Umgang mit der Missbrauchsproblematik wird für die Kirche in Deutschland und Europa zur Existenzfrage“, unterstreicht der Steinfurter Kreisdechant, der regelmäßig vom „Roten Keil“ unterstützte Projekte besucht, in denen vom Missbrauch Betroffene betreut werden. „Die Schäden, die solche Erfahrungen von sexueller Gewalt auslösen, sind kaum adäquat zu beschreiben“, urteilt der Seelsorger nachdenklich. „Für alle, die sich in unserer Organisation engagieren, sind solche erschütternden Begegnungen der Hauptantriebspunkt für ihr Engagement.“

Auch um die Jesiden kümmert er sich

Doch mit dem „Roten Keil“ ist Reidegelds politisches und soziales Engagement keineswegs erschöpft. Bei der „Aktion Hoffnungsschimmer“, die sich aktiv für die Jesiden einsetzt, ist er Schirmherr und aktives Mitglied. 2014, als das Kernland der Jesiden im Sindschar-Gebirge vom Islamischen Staat überfallen wurde, hat er sich dafür eingesetzt, dass Mitglieder der verfolgten Volksgruppe im Münsterland eine Zuflucht fanden; seither verbringt er alljährlich seinen Urlaub im Irak und Syrien. „Da die Muslime sie als Teufelsanbeter betrachten, kann man nicht davon reden, dass sie in Sicherheit sind“, berichtet der Pfarrer. „Vielmehr sind sie einer beständigen Alltagsdiskriminierung ausgesetzt.“

Sein politisches Gespür kommt Reidegeld auch in seiner Tätigkeit als Kreisdechant zugute, wo er eigene Themen setzen und sich zum Beispiel für bezahlbarem Wohnraum und Nachhaltigkeit stark machen kann. In sein Amt als Pfarrer ist er fast gleichzeitig mit dem ersten Lockdown gestartet, was ihm den Einstieg und die Begegnung mit Land und Leuten nicht gerade einfach gemacht hat. „Trotzdem macht es Spaß, und es ist uns in Corona-Zeiten gelungen, neue Wege zu gehen“, freut er sich. So hat er bereits im vorigen Sommer Gottesdienste in privaten Gärten gefeiert und will mit Messen in die verschiedenen Stadtviertel gehen. Das bisherige Pfarrhaus soll zum öffentlichen Begegnungsraum umgestaltet werden. „Wir müssen als Kirche den Umstieg vom Monopolisten zum Wettbewerber schaffen und Begegnungsräume für die Menschen kreieren“, betont er.

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