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Jenny Rasche: Der Engel von Sibiu

Die deutsche Sozialarbeiterin Jenny Rasche setzt in Rumänien Zeichen christlicher Nächstenliebe – aber auch ihre eigenen neun Kinder sind ihr wichtig.
Jenny Rasche
Foto: Foto: | Eine Christin, die Perspektiven gibt: Jenny Rasche im Einsatz.BV

Elend, Dreck und tiefe Verzweiflung. Damit wurde Jenny Rasche auf ihrer ersten Rumänienreise konfrontiert. 2002 war das, da war sie 19. „Eine Romafrau bat mich an einer Ampel um etwas Essbares“, erinnert sich die heute 37-Jährige an jenen Moment, der ihrem Leben eine neue Richtung gab. Damals bereitete sich die gebürtige Sachsen-Anhaltinerin in Goslar auf ihr Fachabitur vor, wollte danach einen sozialen Beruf ergreifen und „Mutter ganz vieler Kinder werden“. Doch diese Pläne mussten warten.

Spontan entschloss sich Rasche, die Romafrau in ihr Zuhause am Stadtrand von Sibiu, einer Großstadt in Zentralrumänien zu begleiten. Die Bilder, die sie dort sah, ließen sie nicht mehr los. „Es war wie Sodom und Gomorra, ich hätte nie gedacht, dass es so ein Elend mitten in Europa noch gibt, und das im 21. Jahrhundert“, sagt sie rückblickend beim Durchblättern alter Fotoalben. Bilder kaputter Hütten sind dort zu sehen, daneben zerlumpte Kinder und alte Männer, die traurig und stumm in die Kamera blicken. Rasche sitzt im Wohnzimmer ihres Einfamilienhauses und sinniert über die vergangenen Jahre, während sich Ehemann Philipp nebenan um die gemeinsamen Kinder kümmert.

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Menschen am Rand der Gesellschaft

Nach der Begegnung mit der jungen Romafrau entschloss sich Rasche, zu handeln. Sie sammelte Geld in der Heimat, in Österreich und der Schweiz und tat das, was eigentlich Aufgabe des rumänischen Staates wäre, dessen Vertreter aber wenig für Zigeuner übrig haben und das hinter vorgehaltener Hand auch offen zum Ausdruck bringen. Wie eh und je steht diese Volksgruppe auch in Rumänien auf der untersten Skala der Gesellschaft. Genau an diesem Punkt setzte Rasche an, indem sie am Stadtrand von Sibiu in wenigen Jahren eine Sozialinfrastruktur aus dem Boden stampfte, die im EU-Land Rumänien wohl ihresgleichen sucht. An der Stelle, wo früher einsturzgefährdete Bretterbuden ohne Strom und Wasser standen und alkoholisierte Väter ihre Familien terrorisierten, spielen heute Kinder im Sandkasten und fragen sich Schüler gegenseitig englische und deutsche Vokabeln ab. An zahlreichen weiterführenden Schulen Sibius wird Deutsch als Fremdsprache unterrichtet, es zu lernen, gilt als elitär.

Und auch was Kinder angeht, hat Rasche klare Vorstellungen: „Keine zu kriegen, ist verplemperte Lebenszeit“, meint sie und ist darin mit gutem Beispiel vorangegangen. Inzwischen haben sie und Ehemann Philipp derer neune. Hinter ihrem Rücken nennen sie die Romakinder respektvoll „General“, weil sie auch sehr streng sein kann. Für andere ist sie ein Engel, der aus der Fremde kam, um ihnen beizustehen. Hunderte Romafamilien haben durch den Einsatz der jungen Deutschen inzwischen neue Perspektiven gefunden. „Sie müssen nicht mehr auf Betteltour in den Norden ziehen, können ihre Kinder zur Schule schicken oder eine Ausbildung machen lassen“, sagt Susanne Knappe, Pressesprecherin des in Stapelburg ansässigen Vereins Kinderhilfe Siebenbürgen e.V., den Rasche leitet und der auch schon Gegenstand einer einstündigen Fernsehdokumentation im Ersten gewesen ist. Zweimal im Jahr verschickt der Verein, nach eigenen Angaben, zwischen 16 und 17 Tonnen Hilfsmaterial nach Rumänien, vom Schreibmaterial für die Schule über Bettzeug bis hin zu Waschmaschinen und gebrauchten Kinderfahrrädern; meist, der Kosten wegen, über eine rumänische Spedition.

Und dennoch. Trotz aller Erfolge ist Rasche nicht blauäugig geworden. Sie und ihre zwölf Mitarbeiter wissen, dass „es Generationen dauern wird“, um die Roma dauerhaft in die westliche Gesellschaft zu integrieren. „Zu viel wurde in der Vergangenheit kaputt gemacht, den Roma das Gefühl vermittelt, dass sie Sonderlinge sind, nicht dazu gehören“, beklagt Rasche.

Brettspiele und ein warmes Mittagessen

Ein wenig erinnert sie das Schicksal der Roma an das des jüdischen Volkes, dem die Welt 1948 mit dem modernen Israel immerhin einen eigenen Staat zugebilligt hat, wovon die Roma bis heute nur träumen können. In Berlin, wo Roma in den dreißiger Jahren ebenso wie die Juden verfolgt wurden, erinnert heute neben einem Sozialzentrum der Salesianer im Bezirk Marzahn nur eine schlichte Stele an ihre Deportation in die Vernichtungslager der Nazis, darunter den Vater der Schlagersängerin Marianne Rosenberg, der Auschwitz überlebt hatte.

In Sibiu wächst derweil die Hoffnung. Einigen Romakindern ist kürzlich sogar der Sprung aufs Lyzeum, das rumänische Gymnasium geglückt. Was in einem Fall mit einem Stipendium und einem Austauschschuljahr in Deutschland honoriert wurde, wie man auf der Vereinshomepage roma-kinderhilfe.de nachlesen kann. Jenny Rasche, die in Hermannstadt evangelische Theologie studiert hat und fließend Rumänisch spricht, steht heute an der Spitze mehrerer Hilfsprojekte, verhandelt mit Wohltätern, staatlichen Stellen und Soziallobbyisten. Nicht selten geht es dabei um das leidige Thema Geld, denn für ihre Projekte müssen genaue Haushaltspläne und Abrechnungen aus Vorjahreszeiträumen vorliegen, damit die Gemeinnützigkeit erhalten bleibt.

Früchte der Arbeit

Bei allem Hickhack und so mancher Rückschläge können sich die Früchte der Vereinsarbeit durchweg sehen lassen. Dazu gehören in Sibiu auch mehrere Essensausgabestellen, eine Beratungsstelle für angehende Mütter und ein Betreuungszentrum, in dem Mädchen und Jungen bis zwölf Jahren nachmittags unter pädagogischer Aufsicht zum Spielen kommen. Zu Rasches Projekten gehört auch die Siedlung Sura Mare, wo Häuser der Roma saniert und neu gebaut werden. Für ihren Einsatz erhielt sie 2019 den Lothar-Kreyssig-Friedenspreis der Stadt Magdeburg.

Absehbar war das alles nicht. Niemand ahnte vor zwanzig Jahren, dass der jungen Frau mit den gefärbten Haaren in den Slums von Sibiu ein kleines Wunder gelingen würde. Denn Armut war nicht das einzige Problem, mit dem Jenny Rasche in Rumänien konfrontiert war. „Viele Roma-Eltern konnten weder lesen noch schreiben, waren psychisch krank, und viele Kinder gingen nicht zur Schule“, sagt sie. Zunächst stellte Rasche ein Nachhilfeprogramm auf die Beine. 2015 folgte das Kinderheim „Pippi-Langstrumpf“, das heute täglich mehr als 60 Kinder aufsuchen. Dort gibt es ein warmes Mittagessen, Brettspiele und sachkundige Hilfe bei den Hausaufgaben, so wie in einer ganz normalen Familie.

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