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Frustriert in der zweiten Corona-Welle

Israel wird von der zweiten Welle der Coronainfektionen heimgesucht. Jetzt zeigen sich gesellschaftliche Verwerfungen zwischen Tel Aviv und Jerusalem.
Coronavirus- Israel
Foto: Nir Alon (ZUMA Wire) | Ein orthodoxer Jude steht an einer Absperrung und diskutiert mit einem Polizisten (r). Die Polizei setzt aufgrund erneut steigender Infektionszahlen während der Corona-Pandemie eine Abriegelung des vorwiegend ...

Israel befindet sich mitten in der zweiten Corona-Welle. Gegenwärtig verdoppelt sich die Zahl der Fälle innerhalb von neun bis zehn Tagen. Zwar erkranken momentan nur 2,5 Prozent der Infizierten schwer, doch innerhalb eines Monats drohen die Krankenhäuser an die Grenze ihrer Kapazitäten zu gelangen. „Die erste Welle war durch eine professionelle und gewissenhafte, politische Führung gekennzeichnet“, verkündete Siegal Sadetzki vergangene Woche. „Leider hat der politische Kompass bei der Behandlung der Pandemie nun seit einigen Wochen die Richtung verloren.“ Sie war als Direktorin für die öffentliche Gesundheit im Gesundheitsministerium eine entscheidende Architektin der erfolgreichen Bekämpfung der ersten Corona-Welle in Israel – nun ist sie aus Frustration zurückgetreten, der sie auch öffentlich Luft gemacht hat. Israel ist innerhalb weniger Monate von einem Vorzeigefall im Umgang mit der Pandemie zu einem Sorgenkind geworden. Und dies bezieht sich nicht nur auf die Ausbreitung des Virus, sondern auch auf die gesellschaftlichen Folgen. Am vergangenen Wochenende zeigten zwei Demonstrationen, wie tief die Narben der Pandemie bereits in das Leben der Israelis eingezeichnet sind. 

"Der Kampf begann mit der Ausgangssperre und ging weiter,
ohne dass wir eine gerechte Entschädigung erhalten haben"

 

Demonstration in Tel Aviv

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Am vergangenen Samstagabend haben sich über 10.000 Demonstranten in Tel Aviv versammelt. Mit Schutzmasken und Sicherheitsabstand zueinander verdeutlichten sie, ihre Enttäuschung über die zu späte und nicht ausreichende, finanzielle Hilfe der Regierung für die Wirtschaft des Landes zum Ausdruck. Ahinoam Nehmad, der Inhaber eines kleinen Tourismusunternehmens brachte in seinen Worten die Wut der Demonstrierenden in Worte: „Der Kampf begann mit der Ausgangssperre und ging weiter, ohne dass wir eine gerechte Entschädigung erhalten haben. Wir kämpfen nun auch für unsere Existenzgrundlage, für unseren Lebensunterhalt, für unsere Würde als menschliche Wesen.“ Vor der Pandemie betrug die Arbeitlosenquote in Israel 4 Prozent. Nun suchen 847.968 Menschen Arbeit – das entspricht einer Arbeitslosenquote von 21 Prozent. 

Ultra-Orthodoxe demonstrieren in Jerusalem 

Während in Tel Aviv vor allem die Kleinunternehme und Freiberufler demonstrierten, versammeln sich seit vergangenem Freitag in Jerusalem vermehrt ultra-orthodoxe Juden zum Protest gegen die Regierung. Sie widersetzten sich vehement gegen die wegen steigender Infektionsraten verhängten Ausgangssperren in drei ultra-orthodoxen Stadtvierteln. Noch am selben Tag forderte einer der ultra-orthodoxen Knessetabgeordneten seine Partei dazu auf, die Regierungskoalition zu verlassen: „Ich fordere die ultra-orthodoxen Minister auf, die Regierung vorübergehend zu verlassen, bis sie die selektiven Schließungen unseren Nachbarschaften aufhebt“. Und auch der Parteivorsitzende der ultraorthodoxen Partei Jahadut HaTora und Minister für Bau- und Wohnungswesen beklagte, das „selektive und diskriminierende Verhalten der Polizei gegenüber ultra-orthodoxen Demonstranten“. Auf ultra-orthodoxen Nachrichtenseiten und in den Sozialen Netzwerken werden immer öfter Videos veröffentlicht, die unverhältnismäßige Gewalt von Polizisten gegen ultra-orthodoxe Juden thematisieren, die sich nicht an die Maskenpflicht halten. In einem besonders weitverbreiteten Video ist etwa Polizist zu sehen, der einen ultra-orthodoxen Mann anschreit, er solle eine Maske aufsetzen und ihn dann ohrfeigt, obwohl der Mann scheinbar eine Maske trägt.

Landesweite Ausgangssperren geplant

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Der israelische Gesundheitsminister Juli Edelstein erwägt die erneute Verhängung einer landesweiten Ausgangssperre, wenn sich täglich mehr als 2000 Israelis mit dem Virus infizieren sollten. Noch vor zwei Wochen gab es täglich ungefähr 500 neue Fälle, gegenwärtig sind es zirka 1200. Doch es zeichnet sich bereits ab, dass im Unterschied zur ersten Corona-Welle diesmal ein vehementer Protest der Bürger gegen eine solche Maßnahme entbrennen könnte. Währenddessen hat die Palästinensische Autonomiebehörde bereits die Städte abgeriegelt und von Donnerstag bis Sonntag eine umfassende Ausgangssperre angekündigt. Selbst eine für vergangenen Dienstag angekündigte Großdemonstration gegen die Annexionspläne der israelischen Regierung wurden aufgrund der steigenden Infektionsrate abgesagt. Und auch hier, wie in Israel, sind die Bürger zunehmend frustriert mit den ungenügenden Maßnahmen der eigenen Regierung. Der palästinensische Journalist Akram Intasheh hat die Stimmung auf den Straßen in einem offenen Brief an Premierminister Mohammad Shtayyeh zusammengefasst und ihn öffentlich zum Handeln aufgefordert: „Kommen Sie zu uns und hören Sie, wie der Taxifahrer Ihnen erzählt, ob er während der Ausgangssperre seinen Lebensunterhalt bestreiten kann, ob die Besitzer der Marktstände noch eine Möglichkeit haben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wie der Kleinunternehmer bereits die Hoffnung verliert und nicht weiß, wie er die Miete bezahlen soll und ob er Geld hat, um seine Arbeiter zu bezahlen.“

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