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Volten gegen den Zeitgeist

In seinem Buch „Vergessene Gesten“ erinnert der Feuilletonist Alexander Pschera an 125 Gesten, die das Leben früher reicher machten und dem Menschsein Schliff und Tiefe gaben. In der "Tagespost" gewährt Pschera schon mal fünf Erinnerungs-Anleitungen als Schnell-Kurs. Zum Beispiel ...
Volten gegen den Zeitgeist
Foto: Tobias Kleinschmidt (dpa) | Der Duzterror ist ein Zwang zur Nähe: Wo hemmungslos geduzt wird, da kann man sich auf keinen Beobachtungsposten mehr zurückziehen.

Den lieben Gott siezen

Die Welt ist mittlerweile derart gefühlsmäßig verduselt, dass man Duzen schon für einen veritablen Akt höchster emotionaler Authentizität hält. Wer "Du" sagt, der scheint einen Sinn für Gefühle zu haben und daher muss er, so schließt man, ein rundum guter Mensch sein. Das ist unumstößliches Gesetz, und zwar nicht nur an der Kasse von Ikea. Umgekehrt gilt: Wer hartnäckig siezt, der ist und bleibt ein namenloser Fremder, und es ist davon auszugehen, dass er die anderen Menschen als ebensolche behandelt.

Hinter dem "Sie" verbirgt sich Herrschaft, Macht und das Böse

Das hat damit zu tun, dass Gefühle, die nicht ausgedrückt, ausgesprochen und solcherart preisgegeben werden, nur wenig Chance haben, überhaupt als wirklich wahrgenommen zu werden. Kinder, die ihre Eltern und Großeltern, ja vielleicht sogar noch den lieben Gott siezen, sind hilflose Opfer eines autokratischen, erbarmungslosen Erziehungssystems, das sie ihrer Kindheit beraubt, indem es sie zu kleinen, gut geölten Höflichkeits-Automaten macht. Hinter dem "Sie" verbirgt sich Herrschaft, Macht und das Böse.

Menschen, die so sprechen, scheinen geradezu liebesunfähig zu sein, gefangen in ihren sklerotischen Konventionen, unaufgeklärt und freilich zu jeder Schandtat bereit. Einen Ehemann, der seine Ehefrau siezt, kann man sich kaum anders vorstellen als mit einer oder mehreren Geliebten, die er in der Mittagspause sicher nicht nur duzt, aber wahrscheinlich auch das. Und wenn neue Bekanntschaften nicht gleich nach fünf Minuten ein Duzangebot unterbreiten, geht man innerlich auf Distanz, weil man meint, eine abstoßende innere Kälte zu spüren.

Der Duzterror ist ein Zwang zur Nähe

Der Duzterror ist ein Zwang zur Nähe, und so widerspricht er der so lautstark eingeforderten Diversität, weil er nicht nur die sprachlichen Unterschiede einebnet, sondern auch die verschiedenen Haltungen, mit denen Menschen sich begegnen können. Wo hemmungslos geduzt wird, da kann man sich auf keinen Beobachtungsposten mehr zurückziehen.

Vor allem das andeutungsreiche Spiel junger Liebender wird durch ein umstandsloses "Du" sofort auf die Ebene ordinärer Hemdsärmeligkeit hinabgezwungen, die das Geheimnishafte des ersten Abtastens und Abfragens vulgarisiert. Der Magie der Begegnung wird jener Schleier entrissen, der es den Liebenden erlaubt, im Anderen mehr zu sehen, als er tatsächlich vielleicht ist – und besteht nicht genau darin.


„Vergessene Gesten“ als Volten gegen den Zeitgeist – Lesen Sie weitere Volten von Alexander Pschera in der Ausgabe vom 4. Oktober 2018. Kostenlos erhalten Sie diese Ausgabe hier.

DT

 Der Text ist ein Auszug des Buches „VERGESSENE GESTEN. 125 Volten gegen den Zeitgeist“
(Mit einem Vorwort von Martin Mosebach und 12 Illustrationen von Leandra Eibl; ISBN 978-3-903244-00-9). Mit freundlicher Genehmigung des DVB-Verlages.

 

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Martin Mosebach

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